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Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Titel: Sherlock Holmes und das Phantom der Oper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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Wenn ich seine Handlungen nicht vorhersehen konnte, konnte ich vielleicht wenigstens seine Motive verstehen lernen.
    Sie schienen auf der Hand zu liegen. Das Ungeheuer war von der armen Christine Daaé besessen. Auch dieser Gedanke begann, während ich an Straßen und kleinen Geschäften vorbeilief, immer mehr an Gestalt anzunehmen. Soweit es sie betraf, gefiel es ihm, seine eigenen Regeln für Leben und Tod zu machen, ein Gesetz, das ganz das seine war. Es gefiel ihm, zu kommen und zu gehen, wann und wo es ihm paßte, so als gehörte ihm die ganze Opéra.
    Dann plötzlich dämmerte es mir. Es war gegenüber von St.-Germain-Des Prés, als mir die Erleuchtung kam, ebenso plötzlich und magisch wie jener Apfel, der auf Newtons Kopf fiel. Als mir die Lösung des Ganzen klar wurde, mußte ich stehenbleiben und mich gegen eine Platane am Straßenrand lehnen, denn einen Augenblick lang war mir schwindlig vor Staunen. Die Wahrheit, über die ich gestolpert war, war, wenn auch unglaublich, ganz und gar unausweichlich, und außerdem hatte ich sie schon eine ganze Weile direkt vor der Nase gehabt. Es war nur die Eigenartigkeit des Ganzen, die mich so begriffsstutzig gemacht hatte. Sie kennen meine Lieblingsmaxime, Doktor: Man muß das Unmögliche ausschließen, und was immer dann noch bleibt, muß, gleichgültig, wie unwahrscheinlich, die Wahrheit sein. Nur auf diese Art und Weise konnte ich mir die ungewöhnliche Kenntnis, die das Phantom über die Opéra hatte, erklären. Ich kann nicht verstehen, warum mir die einfachste aller Lösungen erst so spät in den Sinn gekommen war, aber da ich ohnehin in der Stimmung war, mir selbst zu verzeihen, beschloß ich, diesem geschenkten Gaul nicht weiter ins Maul zu schauen und kostbare Zeit zu verschwenden, indem ich mich für meine Blindheit geißelte.
    Ich fand Ponelle in seinem Stammlokal auf dem Boulevard St. Germain, wie er mit einer gefährlich von seinen Lippen baumelnden Zigarette über den Zeitungsartikel, der von der Tragödie berichtete, versunken war.
    »Geht es Ihnen gut?« fragte ich, zog mir einen Stuhl heran und winkte dem Kellner. »So gut, wie man es unter diesen Umständen erwarten kann«, gab er zurück, ohne aufzublicken. »Ich wette, Madame Giry ist wieder in Lohn und Brot.«
    »Das würde mich nicht wundern. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
    Zum ersten Mal sah er mich an.
    »Nur wenn ich Sie vorher etwas fragen darf.« Ich wartete. »Sie haben doch gewußt, daß gestern abend irgend etwas nicht stimmte.«
    »Das ist keine Frage.«
    »Nun kommen Sie schon. Und Sie haben gestern bei der Probe Mademoiselle Adler das Leben gerettet.« Bevor ich darauf etwas erwidern konnte, machte er sich seinen Vorteil zunutze. »Ich habe Sie vor der Abendvorstellung auf der Bühne stehen sehen, und Sie waren rastlos wie ein Panther und haben alles und jeden genau beobachtet.« Er lächelte triumphierend. »Und Sie haben mir gesagt, ich soll Sie bei Leroux entschuldigen. Sie sind Polizist?«
    Der Kellner kam und nahm meine Bestellung entgegen. Als er wieder gegangen war, tat ich so, als müßte ich mich zu einem Entschluß durchringen.
    »Ich werde Sie also ins Vertrauen ziehen«, sagte ich schließlich und stürzte mich kopfüber in das alte Märchen, daß ich auf Geheiß der Präfektur Nachforschungen über den Tod von Joseph Buquet anstellte.
    Ponelle nickte ernst und streifte ein wenig Zigarettenasche ab.
    »Ich wußte es.« Er seufzte. »Fragen Sie.«
    »Ich möchte, daß Sie mir etwas über Charles Garnier erzählen.«
    »Was ist mit ihm?«
    »Könnten Sie ihn mir beschreiben?« Er sah mich verwirrt an. »Seine körperliche Erscheinung. Wie sah er aus?«
    Ponelle nagte an einem Fingerknöchel. Mein Kaffee kam, und ich rührte nachdenklich darin herum, während ich mich bemühte, meine Ungeduld zu verbergen.
    »Er war, ehm, ich würde sagen, einsachtzig groß, hatte ziemlich dunkle Haut und tief eingefallene blaue Augen.«
    »Was sonst noch?«
    Er schloß die Augen, suchte in Gedanken nach weiteren Informationen und sah mich dann plötzlich lächelnd an.
    »Sein Haar und sein Bart waren rot – feuerrot.«
    »Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn Sie ihn sehen?«
    »Er ist tot, Monsieur.«
    »Sie haben mir nicht meine Frage beantwortet.«

KAPITEL ELF

    In der Stadt der Toten

    »Ich kann einfach nicht glauben, daß Sie mich dazu überreden konnten«, rief Ponelle schon zum fünften Male, als wir durch das Tor des Père-Lachaise-Friedhofs traten, das ein wenig abseits

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