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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Welt kann
billigem, primitivem Ausgangsmaterial Wert verleihen. Diese roten Banditen
wissen ja nicht mal, wie sie den Familienbesitz führen sollen, den sie ihm
weggenommen haben! Gott sei Dank (oder an wen auch immer diese Atheisten jetzt
glauben) kapieren sie wenigstens, dass belesene, solide, gebildete Leute wie
er für jede Regierung ein Gewinn sind.
    Sein Posten galt als politisch bedeutsam, weil die
Botschaft eine der ersten ausländischen Vertretungen der formal unabhängigen
Ukraine war; er lebte im Zentrum des sich erholenden Wien, in einer vornehmen,
geräumigen Wohnung mit eleganten, geschmackvoll kombinierten Möbeln, entworfen
von der Wiener Werkstätte, und genoss die Ausstellungen im Museum für Kunst und
Industrie. Er musste sich mit dem ewigen Tausch von Freude gegen Macht
abfinden; man tauschte feudale Strukturen gegen gediegene, starre Materialien.
Das Gold und den Samt der Opernbälle gegen den stählernen Klang seiner Stimme,
die Champagnerkelche aus Kristallglas gegen Wodkagläser, das einladende
Ziegelrot seines Gutshauses gegen den grauen Beton der »Gemeindebauten« des
Roten Wien.
    »Towarischtsch Botschafter«, sein Sekretär
zappelt immer noch aufgeregt an der Tür herum, »der Name des Besuchers ist
Grygorij Polubotok. Er besitzt im Norden Argentiniens einen ukrainischen Laden.
Er behauptet die ganze Zeit, es gehe um eine Sache von staatswichtiger Bedeutung. Soll ich ihn wegschicken?« Der Botschafter hat von den
ukrainischen Siedlungen in Lateinamerika gehört. Ukrainische Bauern, angelockt
von der Verheißung riesiger Flächen unbebauten Lands, durchquerten die halbe
Welt, nur um dann zu entdecken, dass die Grundstücke weit im Süden Argentiniens
lagen, 1000 Kilometer von Buenos Aires entfernt, im Dschungel; dass sich der
rote Lehm dort nicht zum Weizenanbau eignete; dass es Ameisen und Schlangen im
Überfluss gab. Und doch harrten sie aus, errichteten weißgetünchte ukrainische chaty mit Brunnen im Garten, pflügten die Felder und
beteten. Der Botschafter ist neugierig und fühlt sich geschmeichelt. »Na gut,
soll reinkommen.« Dieser Ladenbesitzer muss ja ziemlich weit gereist sein, um
ihn hier in Wien zu treffen. Der Besucher lässt sich in der Ecke nieder; man
merkt ihm an, dass er sich im plüschigen Büro des Botschafters unbehaglich
fühlt. Er ist massig, wie aus einem derben Holzklotz geschnitzt. Ein Handwerker,
der wie eine Marionette agiert, mit ungelenken, berechenbaren Gesten: Der
Stiernacken ruckt, die Finger kratzen am bestickten Stehkragen des Hemds,
knöpfen die altmodische Jacke auf und zu. Sein breites, sonnengebräuntes
Gesicht trägt einen angespannten, unsicheren Ausdruck, den der Botschafter
kennt. So haben die Bauern auf seinem Gut ausgesehen, wenn sie mit einer Bitte
zu ihm kamen.
    Er möchte heimkehren, vermutet der Botschafter. Hat von
sozialer Gleichheit und Kolchosen gehört und will nun auch zu den Erbauern des
Sozialismus gehören, vermisst sein Vaterland - man kennt das ja. Ich hätte
heute auch so robuste Stiefel gebraucht wie er, denkt der Botschafter, nicht
diese undichten Schnürschuhe. Dann würden sich meine Füße jetzt um einiges
besser anfühlen. Wärmer. Und trockener.
    Nach einer halben Minute verkrampfter Stille beschleicht
den Botschafter ein gewisser Ärger. Er weiß nur allzu gut, dass erfolgreiche
Verhandlungen von der Länge einer Pause abhängen. Ist die Pause zu kurz,
entgleitet einem die Kontrolle. Wird sie zu lang, entsteht eine feindselige
Stimmung.
    Er winkt den Besucher näher zum Schreibtisch heran.
Hoffentlich sieht dieser Immigrant nicht seine nassen Füße und durchweichten
Hosen. Der Besucher interpretiert diese Geste als Aufforderung zum Reden.
    »Parte Botschafter«, beginnt er - »Herr
Botschafter« - und sammelt sofort Punkte. »Mein Name ist Grygorij Polubotok.
Ich führe den ukrainischen Laden in Apostoles, in der argentinischen Provinz
Misiones. Wir haben 1897 mit sechs Familien angefangen, und jetzt ist daraus
eine große ukrainische Stadt mit fast zehntausend Menschen geworden. Wir haben
eine Kirche, in der sich zweiunddreißig aus der Ukraine stammende Ikonen
befinden, und unsere Kinder besuchen im Dorf die ukrainische Schule. Ich führe
also den Laden, aber ich arbeite auch auf dem Land. Wir pflanzen yerba mate an - argentinischen Tee - und Mais und Baumwolle.« Seine Stimme bebt
vor Stolz auf das Erreichte. Er verwendet viele altertümliche Wörter des
westukrainischen Dialekts und betont nachdrücklich die

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