Sibirisches Roulette
Freude die entschlüsselten Funkmeldungen, die aus aller Welt auf seinen Tisch kamen. Verantwortlich war die GRU einzig und allein dem sowjetischen Generalstab. Nicht einmal Kulpakow wußte, was in der Operation II seines Kollegen alles geschah.
»Bleiben wir uns einig«, sagte Kulpakow freundschaftlich, »keiner von uns möchte das Amt des anderen haben. Trotzdem bin ich froh, daß Sie gekommen sind, Anatoli Borisowitsch. Wie lange kennen wir uns? Na? Sind es vierzig Jahre?«
»Einundvierzig, Valentin Valentinowitsch.«
»Die Zeit rast uns davon! Einundvierzig Jahre! So schnell vorbei. Erschreckend. Wir waren damals Leutnants, blutjunge Bürschchen. Erinnern Sie sich noch, wie wir in Charkow, im Kasino des deutschen Armeekommandos, acht Flaschen Champagner getrunken haben? Jeder von uns vier?«
»Sie sechs, ich zwei.« Tjunin lächelte schwach. »Man mußte Ihnen danach den Magen auspumpen, ich erinnere mich gut. Die letzte Flasche mischten Sie mit Kognak und bekamen eine Alkoholvergiftung.«
»Sie wissen es noch!« Kulpakow schlug sich auf die Schenkel. »Zum Teufel, waren wir damals Kerle!«
»Haben Sie mich herbestellt, Valentin, um von Charkow zu reden?«
Kulpakow schnitt sein Lachen ab, sah Tjunin plötzlich mit einer dienstlichen Miene an und stützte die Hände auf seine Beine.
»Nein! Reden wir nicht drum herum … Sie haben gehört, was am Tobol los ist, Anatoli Borisowitsch?«
»Kein Wort.«
»Das kann nicht sein. Enttäuschen Sie mich nicht, mein Freund. Alles, was das Militär betrifft, weiß auch die GRU.«
»Vielleicht eine andere Abteilung.« General Tjunin zögerte, griff aber dann doch zu der geschliffenen Kristallkaraffe und schüttete sich einen neuen Kognak ein. »Ich bin nicht informiert.«
»Man hat Soldaten aus dem Hinterhalt erschossen oder mit gemein getarnten Bomben in die Luft gesprengt. Bomben, die aussahen wie weggeworfene Kartons, Koffer, Taschen, Eimer, in allen Verkleidungen … sogar als Waschmaschine.«
»Welch ein Luxus! Eine Waschmaschine! So wird wertvolles Volksgut verschleudert«, sagte Tjunin spöttisch. »Aber ich sage Ihnen: Von nichts weiß ich. Das gehört zum innersowjetischen Sektor. Ich habe mit dem Ausland genug.«
»Sie werden anders denken, wenn ich Ihnen die Karte zeige, Anatoli.« Kulpakow erhob sich, wuchtete seinen massigen Körper zum Schreibtisch und kam mit einer großen Landkarte zurück. Auf ihr, vom Aralsee angefangen bis nach Tobolsk, waren rote Kreise eingezeichnet, immer am Rande einer dicken blauen Linie. Wäre Krieg gewesen, hätte man an einen Aufmarschplan denken können. Der Frontverlauf und die einzelnen Armeen.
Kulpakow breitete den Plan auf dem Tisch vor Tjunin aus und überdeckte damit das Frühstücksgeschirr und die Reste auf dem Wurstteller. Tjunin rückte seinen Kneifer zurecht und beugte sich über die Karte.
»Sehr eindrucksvoll gezeichnet«, sagte er. »Aber erklären müssen Sie es mir doch, Valentin Valentinowitsch. Vom Aralsee bis zum Ob …«
»An was denken Sie, mein Freund?«
»An nichts.«
»Ein Stichwort: Sib-Aral-Kanal …«
»Aha!« Tjunin blickte auf und Kulpakow ins dicke Gesicht. »Die Sicherheit des Baues hat man Ihnen an den Hals gehängt. Ich begreife. Lassen Sie sich mitleidsvoll die Hand drücken, alter Freund. Immer habe ich's gesagt: Lieber ein Kommando im nördlichen Sibirien als einen hohen Stuhl im KGB!«
»Die blaue dicke Linie ist der Verlauf des geplanten Kanals«, fuhr Kulpakow mit einer dozierenden Stimme fort. »Die roten Kreise sind die Stellen, wo Aktionen von Saboteuren das Projekt behinderten. Sehen Sie genau hin, Anatoli: Neben jedem roten Kreis steht ein Datum. Was fällt Ihnen auf? Die Daten wandern von Süden nach Norden. Angefangen hat es in der Gegend von Taschaus am Amudarja. Dort wurden drei Kolonnen von Geologen und Landvermessern überfallen. Noch keine Toten, aber die Männer lagen sechs Wochen in Krankenhäusern, so zugerichtet hatte man sie. Dann Tamdy, am Rande der Kysyl-Kum-Wüste. Ein Lager der Forschungsgruppe Wasserbau fliegt in die Luft. Zwei Tote. Als drittes Karamaktschi am Syrdaja. Die ganze Zentrale der im Bau befindlichen Pumpstation 8 brennt aus. Beim Löschen explodieren Benzinbehälter: sechs Tote, darunter zwei Soldaten. Und so wandert die Vernichtung stetig von Süden nach Norden. Jetzt hat man Nowo Gorodjina am oberen Tobol erreicht … Sie stehen vor der Haustür, Anatoli, haben sich vorgearbeitet bis zum Ausgangspunkt des Kanals. Ich erwarte Aktionen,
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