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Sieben

Sieben

Titel: Sieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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Nuggins vor etwa einer Stunde aus der Themse gezogen.«
    »Ertrunken?«
    »Seine Kehle war zerfetzt. Als wäre er von einem Tier angefallen worden.«

Uralte Artefakte
    FÜR EINEN MENSCHEN, der keine Münze in der Tasche und nichts im Magen hatte, war der Weg vom Pentonville-Gefängnis in die Londoner Innenstadt ein beschwerlicher. Doyle hatte es für unvernünftig gehalten, Leboux zur Freilassung Barrys zu drängen. Barry hielt sich noch immer in Pentonville auf, und daran würde sich wahrscheinlich für eine gewisse Zeit nichts ändern. Doch das Gefängnis hielt keine Überraschungen für ihn bereit, und weniger noch als für Doyle. Er hatte seine mittägliche Verabredung mit Sparks in Hatchards Buchhandlung bereits verpaßt und wagte es nicht, ohne die Gewißheit, am Ende seiner Reise für ihre Dienste zahlen zu können, eine Droschke zu mieten. Diese Hoffnung bestand nicht mehr. Die Straße war verschlammt, zog sich endlos dahin, und vorbeikommende Räder bespritzten ihn alle naselang mit Schlamm. Die Leute in den Kutschen schauten von ihren geschützten Sitzen mit Argwohn und Verachtung auf ihn herab oder, was noch schlimmer war: Sie schauten durch ihn hindurch, als sei er aus Fensterglas. Plötzlich fühlte sich Doyle den Stadtstreichern, denen man das Recht auf die Wohlanständigkeit und Engstirnigkeit des vornehmen Lebens aberkannt hatte, näher als je zuvor. Diese rechtschaffenen Bürger, die in ihren privaten Kutschen von einem privilegierten Standort zum nächsten fuhren, sich in einem endlosen Rundgesang mit gesellschaftlichen Verpflichtungen, müßiggängerischen Tafelrunden, Einkaufsfahrten und ihren schmucken, verzogenen Kindern beschäftigten, erschienen ihm auf einmal wie eine Spezies, die ihm so fremd war wie die der Zitteraale. Doyle stellte erschreckt fest, daß er mehr Sympathien für den aus dem East End stammenden Einbrecher Barry empfand als für die Bourgeoisie, die auf der Straße an ihm vorbeiparadierte. Dennoch, waren nicht diese vornehmen Menschen das höchste Ziel einer jeden kultivierten Gesellschaft - diese beständige, expandierende Mittelklasse, die die Produkte der gesellschaftlichen Arbeit in Sicherheit und Freiheit genießen konnte? Waren nicht sie das Publikum, das er persönlich sich so emsig zu unterhalten bemühte, um seine Wertschätzung des menschlichen Charakters zu vertiefen, indem er es seinem Handwerk aussetzte? Wie engstirnig sie doch waren! Wie mühelos man sie doch dazu bringen konnte, die Werte der Schulen, Kirchen und Institutionen zu akzeptieren. Die Vorstellung, sich zu bemühen, die Herzen dieser gefühllosen Tiere in ihren hermetisch abgeschlossenen Kutschen zu rühren, kam ihm plötzlich so leer und sinnlos vor wie ihr hochmütiges Zurschaustellen eines glücklichen, sorgenfreien Lebens.
    Die Industriegesellschaft verlangt einen schrecklichen Preis von ihren Mitgliedern, dachte Doyle bitter. Ist eigentlich einem von uns klar, wie wenige von unseren Ideen und Gefühlen wirklich und ursprünglich von uns selbst stammen? Nein, denn wenn wir ihren Mangel an Bedeutung anerkennen würden, könnten wir nicht Tag für Tag weitermachen, die gleichen Lebensrituale aufführen und die gleichen dumpfen Handlungen wiederholen. Ein Großteil unserer Überlebensfähigkeit basiert auf der bewußten Einschränkung unseres Geistes und unserer Sinne. Wir tragen die gleichen Scheuklappen wie der schwankende Gaul, der die Bierkutsche zieht. Wir schauen durch ein Fernglas in die Welt hinaus, das uns den Blick nach rechts und links verwehrt, ihn blockiert und unsere Wahl in der Sache begrenzt, weil man uns von Geburt an gelehrt hat, daß eine solche Beschränkung unsere Pflicht ist. Denn sollten wir jemals die Linse vor unseren Augen entfernen, würden wir mit dem Schmerz, der Qual und dem Kummer konfrontiert, den wir so emsig aus unserem Blickfeld verbannt haben. Doch das Elend rings um uns her bleibt dennoch bestehen; unaufhörlich, unveränderlich, wie ein beinamputierter Bettler am Straßenrand. Das Leid scheint der unvermeidliche Preis zu sein, der vom Geist gefordert wird, damit er in der Gestalt des Menschen existieren darf. Kein Wunder, daß die Tragödie den einzigen Hammer schwingt, der stark genug ist, die elastische Blase der Selbstzufriedenheit zu zerschlagen, die wir um unser läppisches Dasein errichten und die unsere Sicht auf die Furien verschleiert, die in den dunkleren Korridoren der Nacht patrouillieren. Krieg, Hunger, Katastrophen. Sie sind nötig, um uns aus dem

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