Siesta italiana: Meine neue italienische Familie
Das Ausfragen ihrer wortkargen Schüler pünktlich um neun war genauso demoralisierend wie hilfreich. Nur wenige gaben vor, keine Angst vor ihr zu haben. Eine Peitsche hätte sich in ihren Händen sehr wohl gefühlt. Sie hatte uns in das sprichwörtliche kalte Wasser geworfen, doch schon bald sorgte Il Generale dafür, dass wir darin schwammen wie ein Fisch im Wasser.
Eine hektische fremde Stadt kann genauso rätselhaft sein wie die Sprache ihrer Einwohner. Il Centro machte uns mit beidem bekannt. Der Kurs half meinen Sprachkenntnissen auf die Sprünge, und meine morgendliche Fahrt zur Schule zeigte mir den Charakter des nebligen Mailands. Die Stadt mochte wenig Charme besitzen – trotzdem entdeckte ich ein paar Dinge unter der Nebeldecke, die es wert waren, näher betrachtet zu werden.
Die Fahrt mit dem knallorangen Bus in die Stadt war das erste Abenteuer meiner Vormittage, eine zwanzigminütige Fahrt, die der Fahrer am liebsten in zehn Minuten erledigt hätte. »Wo hast du denn deinen Führerschein gemacht?«, schrie er eines Morgens, während er um ein Auto herumkurvte, das eine rote Ampel überfahren hatte. Ein weiblicher Fahrgast aus der dritten Reihe, der den neapolitanischen Akzent des Busfahrers erkannt hatte, bellte: »Vielleicht in Neapel!«
»Hat da hinten irgendjemand was gesagt?«, fragte der Fahrer mit einem drohenden Unterton, während sein Blick dem Rückspiegel und nicht der Straße galt.
»Nein«, entgegnete die Frau. »Das war nur eine Feststellung. Meiner Meinung nach kommt der Fahrer bestimmt aus Neapel, weil er bei Rot über die Ampel ist.«
»Halten Sie lieber den Mund, signora «, riet ihr der Mann hinter ihr. »In Mailand fahren wir auch bei Rot.«
Wir nahmen eine enge Kurve, und die stehenden Fahrgäste klammerten sich an die Stange über ihnen.
»Ich bin in Neapel vierzehn Jahre lang Bus gefahren und hatte keinen einzigen Unfall, bis ich nach Mailand kam«, sagte der Fahrer.
»Dass Sie plötzlich Verkehrsregeln beachten müssen, muss Sie verwirrt haben«, gab die Frau zurück.
Hitzige, aber harmlose Wortgeplänkel sind ein typisch italienischer Zeitvertreib, und ich lernte es bald, Situationen zu genießen, die ich anfangs für bedrohlich gehalten hatte.
Es gab natürlich auch Tage, an denen nichts Außergewöhnliches passierte. Die Fahrgäste lasen Zeitung oder telefonierten, während jeder Fußgänger, der die Bestzeit des Fahrers vereitelte, ein Hupen zu hören bekam, das öfter kam als der Tritt auf die Bremse.
Die Endhaltestelle lag unweit der Piazza Duomo, Mailands zentralem Platz, auf dem es um halb neun nur so von Menschen wimmelt, die um neun dringend woanders sein müssen. Vielleicht hatte ich noch Andrano vor Augen, aber für mich hat das Wort piazza irgendwie was Dörfliches. Ich denke dabei an Marktbuden und ein nettes Schwätzchen, an eine gelassene Atmosphäre. In einer Wirtschaftsmetropole mit zwei Millionen Einwohnern sollte man meinen, dass die Piazza keine soziale Funktion mehr besitzt. Doch obwohl die Atmosphäre auf der Piazza Duomo alles andere als intim ist, ist dieses Herz der Stadt in den Herzen ihrer Bewohner geblieben. Sie tun, was sie können, um in ihrem hektischen Zeitplan einen Ausflug auf diesen Platz unterzubringen und um seinen schäumenden Brunnen und die kackenden Tauben herumzulaufen.
Ich hätte von zu Hause aus auch die Straßenbahn nehmen können, die direkt vor der Schule hielt, aber ich nahm lieber den Bus, damit ich noch zehn Minuten durch das centro storico laufen konnte, vorbei an der marmornen Pracht der drittgrößten Kathedrale der Welt. Der gotische Dom, der auf das Jahr 1386 zurückgeht, ist ein zerklüftetes Meisterwerk aus Erkern, Glockentürmen, Wasserspeiern und Statuen, von dessen Spitze herab eine goldene Madonna die Stadt zu ihren Füßen segnet – vorausgesetzt, sie kann sie überhaupt sehen. Wenn sich der Nebel endlich lichtet, schimmert sie auf ihrem marmornen Altar in der Sonne und reflektiert wie die Kathedrale den blassrosa Sonnenuntergang.
Winteranfang. Die Milanesi tragen dicke Jacken und hüllen ihre Hälse in Wollschals. Sie schreiten energisch aus und ziehen die Köpfe ein, sodass sie kaum mehr sehen als den Gehsteig und ihre Armbanduhren. Frauen kleiden sich auffällig: goldene Sonnenbrillen, falsche Bräune, hochhackige Stiefel und Pelze. Eine stark geschminkte Frau trug einen Nerz über der Schulter und hatte einen Schlittenhund an der Leine. Ob tot oder lebendig – beides waren Modeaccessoires.
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