Silber
alltäglich werden können?
Metzger wohnte im dritten Stock, hinter einer Gegensprechanlage, durch ein Foyer mit Marmorboden und eine geschwungene Treppe aus Granit hinauf. Alles in dem Gebäude sah nach dem Wohlstand der Vergangenheit aus. Konstantin probierte alle Klingeln durch, bis jemand den Türöffner betätigte. So unachtsam waren die Leute, selbst in der Anonymität der Großstadt – sogar besonders in der Anonymität der Großstadt. Leise schloss er die Tür hinter sich und nahm sich die Zeit, um an der Türmatte den Straßenschmutz von seinen Schuhen abzustreifen. Er wetzte jede Sohle dreimal vor und zurück, bevor er die zweite, innere Tür öffnete und durch das Foyer schritt.
Im Innern war es drei Grad kälter als draußen auf der Straße. Die großen Heizkörper aus Eisen waren mindestens ein halbes Jahrhundert alt, und zweifelsohne war der zugehörige Boiler nicht minder altersschwach. Briefkästen aus Messing säumten die rechte Wand des kleinen Vorraums. Konstantin fuhr mit dem Finger über die Namensschilder und blieb bei G. Metzger stehen. Er hatte den Schlüssel dafür nicht, aber er brauchte auch keinen. Es war kein besonders gutes Schloss, wie das bei Briefkästen meistens der Fall war. Die Post wurde offensichtlich für unantastbar gehalten. Das war ein weiterer markanter Unterschied zu seiner Welt, wo die Post überwacht, zensiert und oft benutzt wurde, um jemanden zu belasten – ungeachtet der Tatsache, dass Stalin schon seit fast sechzig Jahren tot war. Alte Gewohnheiten ließen sich wohl nur schwer ablegen.
Er zog seine Schlüsselkette aus der Tasche und sah sie durch, bis er einen Schlagschlüssel gefunden hatte, der klein genug war. Konstantin zog seinen linken Schuh aus und stellte ihn auf das kleine Regal unter den Briefkästen. Das Prinzip des Schlagschlüssels war simpel: Alle Profilkerben waren auf den tiefsten Punkt heruntergefräst. Er steckte ihn erst ganz in das Schloss hinein, dann zog er ihn wieder eine Einkerbung weit heraus. Er übte ganz leichten Druck auf den Schlüssel aus, als ob er ihn gerade drehen wollte, dann gab er ihm einen Schlag mit dem Absatz seines Schuhs. Der kurze Stoß ließ die Stifte aus dem Zylinder springen und gab ihm den Bruchteil einer Sekunde, den er brauchte, um den Schlüssel drehen zu können. Er kostete ihn ganze vier Sekunden, um den Briefkasten zu öffnen.
Er sah der Reihe nach die Umschläge durch, während er hinaufging. All die schleifenden Füße hatten eine tiefe Spur in die steinernen Stufen gegraben, und das filigran gearbeitete Gitter aus Gusseisen unter dem glattpolierten Handlauf war zu einem dunklen Rot oxidiert. Es waren mehr als zwanzig Briefe, der Großteil davon maschinengefertigte Massenschreiben oder die Rechnungen des laufenden Monats. Obwohl er drei Stockwerke hinauf musste, hatte er oben erst die Hälfte der Briefe durchgesehen. Doch die anderen würde er sich sparen können, wie es aussah.
Nur einer der Umschläge war von Hand beschriftet. Die Leute schickten heutzutage keine Briefe mehr, das machte den handbeschriebenen Umschlag fast schon zu einer Kuriosität. Vorsichtig öffnete er die Verklebung, bemüht, den gummierten Streifen nicht zu berühren. Er konnte noch nicht sagen, ob der Inhalt des Briefes von Bedeutung war, aber er ging lieber kein Risiko ein, bevor er eine mögliche Spur zerstörte. Falls notwendig, konnte der Alte den Speichel, mit dem die Briefmarke und der Klebestreifen angefeuchtet worden waren, zur Analyse geben und die DNS-Spuren für Vergleiche oder zur Identifikation verwenden. Auch in der westlichen Welt gab es viele Dinge, die genauso angsteinflößend waren wie das, was damals im Russland unter Stalin geschehen war.
Er kam bei Metzgers Tür an, die Messingziffer daran war grün angelaufen. Die Lektüre veranlasste Konstantin dazu, auf den Poststempel zu sehen. Er stammte von gestern, dem Tag, an dem Grey Metzger sich das Leben genommen hatte. Die Bearbeitungszeit war mit 16:00 Uhr mitteleuropäischer Zeit angegeben. Genau in diesem Moment hatte Metzger seinen Anruf beendet und war in Flammen aufgegangen.
Der handgeschriebene Brief war ein Liebesbrief. Aber er sprach über Metzger, nicht zu ihm, als ob die Verfasserin gewusst hätte, dass er ihn nie lesen würde, und sie sich diese Worte trotzdem von der Seele schreiben musste. Wie das kleine Mädchen mit den Papierkranichen hoffte sie vielleicht, dass Gott ihre Worte las und sich an ihre Liebe zu diesem Mann erinnerte – Konstantin
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