Silber
deutete das so, dass die Schreibende bereits gewusst hatte, dass Metzger sterben würde. Er grunzte, als ihm klar wurde, mit was für einer schrecklichen Pünktlichkeit sie den Brief abgeschickt hatte. Gehörte sie zu den Tätern? Nein, er schüttelte den Kopf. Dieser Brief war nicht das Geständnis einer Mörderin, er enthielt weder Hohn noch Spott. Nur Traurigkeit. Ihre Worte waren sehr ausdrucksstark. Es ging hier nicht um Metzger, sondern um seine Geliebte, die Frau, die Lethe in den ganzen Dokumenten nicht hatte finden können.
Sie war das Druckmittel.
Man hatte ihr die Möglichkeit gegeben, alles zu Papier zu bringen, man hatte sie zum Postamt begleitet, und der Brief war genau in dem Moment aufgegeben worden, als der Mann, den sie liebte, sich selbst verbrannt hatte.
Wer waren diese Leute?
Der angespannte Ton des Briefes rührte nicht von dem Wissen her, dass Grey Metzger tot war – sie betrauerte ihn nicht – sondern weil sie wusste, dass sie selbst bald sterben würde. Der Brief hatte sie beruhigt und ihr etwas gegeben, worauf sie ihre Aufmerksamkeit lenken konnte, aber sie war sich im Klaren darüber gewesen, dass ihre Zeit bereits abgelaufen war. Doch sie war nicht zusammengebrochen, sie hatte diesen Brief geschrieben. Dafür brauchte man Stärke. Und Stärke hieß, dass sie ihm bestimmt mitteilen wollte, was mit ihr geschehen war, irgendwie, irgendwo in diesem Brief.
Gab es Anspielungen auf Situationen, die sie zusammen erlebt hatten? Schrieb sie etwas wie „Weißt du noch, als wir damals auf den Stufen des Berliner Doms gesessen haben?“ oder „Ich werde nie den verregneten Tag vergessen, an dem wir Hand in Hand am Checkpoint Charlie vorbeigegangen sind“? Beschrieb sie einen Ort, einen Menschen oder ein bestimmtes Ereignis? Zwischen all den liebevollen Worten musste irgendetwas versteckt sein, vielleicht ein Hinweis darauf, wer sie entführt hatte, oder wohin man sie gebracht hatte. Sie hatte genug Stärke besessen, um den Brief zu schreiben, also musste sie auch schlau genug gewesen sein, ihnen jetzt zu helfen, selbst wenn ihre Hilfe von jenseits des Grabes kam.
Er stopfte den Brief in die Manteltasche und schüttelte sich wieder den linken Schuh vom Fuß. Er würde drinnen weiterlesen.
Mit derselben Methode, die er auch bei dem Schloss des Briefkastens angewandt hatte, brauchte er diesmal neun Sekunden, um Metzgers Wohnungstür zu öffnen.
Konstantin schloss die Tür hinter sich.
Die Wohnung sah genauso aus, wie er sich die einer Mittelklasse-Existenz vorgestellt hatte. Der Flur diente zugleich als Bibliothek: Deckenhohe Bücherregale befanden sich an den Wänden, auf denen viele akademische Werke mit abgegriffenen Rücken standen, hier und da unterbrochen von einem Zugeständnis an die Popkultur. Ihm fiel auf, dass nur wenige Romane in den Regalen zu finden waren. Fast alle Bücher, die in der Nähe der Tür standen, befassten sich mit der byzantinischen Epoche. Auf dem Weg zum Wohnzimmer verjüngte sich der Zeitstrahl, die Bücher hier hatten fast alle das europäische Mittelalter zum Thema, was wiederum gut ins Bild passte.
Das letzte Bücherregal war gefüllt mit billigen, zerfledderten Taschenbüchern. Die Buchrücken waren mehrfach gebrochen, die Seiten hatten Eselsohren, als ob jedes von ihnen ein Dutzend Mal gelesen worden wäre. Er nahm eins davon heraus und blätterte es durch. Innen war mit Bleistift der Preis hineingeschrieben worden, daneben prangte der Stempel eines Antiquariats in der Stadt. Er wählte zufällig drei weitere Bücher aus, und auch sie trugen die Kennzeichnung des Geschäfts.
Auf dem obersten Brett des Bücherregals stand ein kleiner, tragbarer Fernseher, der mindestens zwanzig Jahre alt sein musste. Nach dem Aufstellungsort des Geräts zu schließen, wurde es so gut wie nie benutzt; es war zweifelhaft, ob es überhaupt funktionierte. Konstantin vermutete, dass die zerlesenen Taschenbücher Metzgers Ersatz für das Fernsehen gewesen waren. Ähnlich wie die Russen pflegten auch die Deutschen ihre Muttersprache fast schon mit Besessenheit, sie synchronisierten sogar die endlosen Wiederholungen der amerikanischen Sitcoms. Für einen Engländer, der wahrscheinlich glaubte, dass die Welt sich um seine Muttersprache drehte, musste das fast einem Kulturschock gleichkommen. Konstantin stellte das Buch zurück.
Der Flur öffnete sich in einen Raum mit einer hohen Decke. Die Vorhänge waren aus schwerem grünem Samt und wurden von einem dicken goldenen Brokatseil
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