Silbermantel
schwirrend über ihm von einem Ast auf und versetzte ihm einen ziemlichen Schrecken.
Er gelangte dahin, wo Tabor sich versteckt hatte – sehr gut versteckt übrigens. Torc hatte fast eine Stunde gebraucht, ihn zu finden. Selbst als er direkt auf die Stelle schaute, konnte Dave kaum die Gestalt des Knaben in der Mulde erkennen, die er sich ausgesucht hatte. Tabor würde schlafen, hatte Torc ihm vorhin erklärt. Der Schamane hatte ihm einen Trank gebraut, der hierfür sorgen würde, und für einen offenen Geist, um willkommen zu heißen, was ihn möglicherweise wecken würde.
Guter Junge, dachte Dave. Er hatte nie einen jüngeren Bruder gehabt, fragte sich, wie er sich ihm gegenüber verhalten hätte, wenn es so gekommen wäre. Viel anständiger als Vince, dachte er erbittert. Verdammt viel anständiger als Vincent.
Noch einen Augenblick lang beobachtete er Tabors Umgebung, dann wandte er sich ab, in der Gewissheit, dass keinerlei Gefahr im Verzug war. Noch war er nicht soweit, sich wieder zu den beiden anderen zu gesellen, daher schlug Dave auf dem Rückweg durch den Hain einen Bogen.
Er hatte die Lichtung nie zuvor gesehen. Er wäre beinahe hineingestolpert, hielt sich gerade noch rechtzeitig zurück. Dann ging er in die Hocke, so leise er nur konnte.
Da war ein kleiner Teich, silbrig glitzernd im Mondlicht. Auch das Gras war silbern getönt, es wirkte taubenetzt und duftig, irgendwie frisch. Und ein Hirsch, ein voll ausgewachsener Bock, trank aus dem Teich.
Dave merkte, dass er den Atem anhielt, sich völlig still verhielt. Die Szene im Mondlicht war so schön, so friedlich, er betrachtete sie als Geschenk, als Gabe, die ihm verliehen wurde. Er würde morgen abreisen, südwärts nach Paras Derval reiten, der ersten Zwischenstation auf dem Weg nach Hause. Er würde nie wieder hier verweilen, nie wieder so etwas zu sehen bekommen.
Soll ich denn nicht weinen? dachte er, auch wenn ihm klar war, dass so eine Frage ganze Welten entfernt war von seinen normalen Gedankengängen. Aber so war es, er war eine ganze Welt von ihnen entfernt.
Und dann standen ihm die Nackenhaare zu Berg, und Dave wurde sich bewusst, dass noch jemand am Rand der Lichtung stand.
Er wusste es, noch ehe er hinschaute, daher rührte seine Scheu: Ihre Anwesenheit hatte sich ihm auf eine Weise offenbart, die er nicht richtig verstand. Sogar die Luft, das Mondlicht, legten jetzt Zeugnis davon ab.
Als er sich schweigend und ehrfürchtig umdrehte, gewahrte Dave eine Frau mit einem Bogen, die ein Stück von dort entfernt am Rand der Lichtung stand, wo er sich im Dunkeln niedergelassen hatte. Sie war in grüne Gewänder gehüllt, ganz in Grün, und ihr Haar hatte den gleichen Silberton wie das Mondlicht. Hochgewachsen war sie, wie eine Königin, und er hätte nicht sagen können, ob sie jung war oder alt, auch die Farbe ihrer Augen blieb ihm verborgen, denn von ihrem Gesicht ging ein Leuchten aus, das ihn veranlasste, verlegen und furchtsam die Augen abzuwenden.
Alles lief sehr schnell ab. Ein zweiter Vogel flatterte plötzlich mit deutlich hörbarem Flügelschlag aus einem Baum. Der Hirsch hob vorübergehend aufmerksam den Kopf, ein prachtvolles Tier, ein König des Waldes. Aus dem Augenwinkel – direkt hinzusehen wagte er nicht – sah Dave, wie die Frau einen Pfeil in ihren Bogen einlegte. Ein Augenblick verstrich, ein einzelner Pulsschlag der Zeit, währenddessen das Bild erhalten blieb: der Hirsch mit hoch erhobenem Kopf, jederzeit zur Flucht bereit, das Mondlicht auf der Lichtung, auf dem Wasser, die Jägerin mit ihrem Bogen.
Dann löste sich der Pfeil und fand den langen, ungeschützt dargebotenen Hals des Hirsches.
Dave empfand Trauer um das Tier, um das Blut auf dem silbrigen Gras, um die Vernichtung einer so edlen Kreatur.
Doch was als nächstes geschah, entrang ihm ein tief empfundenes, verblüfftes Keuchen. Wo der tote Hirsch lag, breitete sich ein Schimmer aus auf der Lichtung, ein Mondstrahl, erschien es zunächst; dann verdunkelte es sich, gewann Form und dann Gestalt, und am Ende sah Dave einen anderen Hirsch, identisch mit dem ersten, furchtlos, unversehrt, majestätisch dastehen. Einen Augenblick lang stand er so da, dann neigte sich das mächtige Geweih huldigend vor der Jägerin, und das Tier verschwand von der Lichtung.
Die Macht, die sich ihm im Mondlicht offenbarte, die Transzendenz dieses Erlebnisses war zu viel für ihn; tief im Innern empfand er ein schmerzliches Sehnen, das entsetzliche Bewusstsein seiner eigenen
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