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Silbermantel

Titel: Silbermantel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guy Gavriel Kay
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von Trauer zur Untätigkeit verführen lassen.
    Daher erhob sie sich, die Seherin von Brennin, die jüngste Träumerin des Traums, um zu beginnen, wofür Ysanne gestorben war, es ihr zu ermöglichen. Nicht einfach nur gestorben war. Es gibt Handlungen, aus guter wie aus böser Absicht, die so weit außerhalb der Grenzen normalen Verhaltens liegen, dass sie uns, die wir hinnehmen, dass sie sich ereignet haben, zu einer Neuordnung unseres Verständnisses von der Realität zwingen. Wir müssen Platz für sie schaffen.
    Dies, dachte Kim, war es, was Ysanne getan hatte. In einem Akt von so ungeheurer Liebe – und nicht nur zu ihr persönlich –, wie er kaum fassbar war, hatte sie ihre Seele von jeglichem Platz losgesagt, den diese innerhalb der Zeit einnehmen mochte. Sie war fort, und das gänzlich. Nicht bloß aus dem Leben geschieden, sondern mehr, viel mehr, wie Kim nun klar war – auch aus dem Tod; auch aus dem, was hinter den Webmustern lag, die der Weber für seine Kinder geschaffen hatte.
    Dafür hatte die Seherin Kim alles gegeben, was sie konnte, hatte ihr alles geschenkt. Kim konnte nicht länger behaupten, sie sei nicht aus Fionavar, denn nun war sie durchdrungen von einem intuitiven Verständnis für diese Welt, das sogar noch tiefer war als das Wissen um ihre eigene. Wann immer sie jetzt einen Bannzauber zu sehen bekommen würde, sie würde ihn als solchen erkennen; sie verstand den Vellin an ihrem Handgelenk, verstand zum Teil den wilden Baelrath an ihrem Finger; und eines Tages würde sie wissen, wer Lisens Reif zu tragen und den finstersten Pfad zu beschreiten bestimmt war. Raederths Worte; Raederth, den Ysanne zum zweiten Mal verloren hatte, um Kim dieses Vermächtnis zu hinterlassen.
    Und das war so unbillig. Welches Recht, welches Recht nur hatte die Seherin, ein solches Opfer zu bringen? Mit diesem unmöglichen Geschenk eine solche Bürde weiterzugeben? Wie hatte sie sich anmaßen können, für Kim zu entscheiden?
    Doch nach einer Weile war es einfach, die Antwort darauf zu finden: Sie hatte nicht entschieden. Kim konnte gehen, sich entfernen, sich verweigern. Sie konnte wie geplant den Übergang nach Hause vollziehen und sich das Haar färben, oder es lassen, wie es war, und die New-Wave-Mode mitmachen, wenn sie wollte.
    Nichts hatte sich geändert.
    Natürlich bis auf die Tatsache, dass doch alles anders war. Wie könnte man den Tänzer gesondert von seinem Tanz beurteilen? hatte sie irgendwo gelesen. Oder die Träumerin von ihrem Traum, ergänzte sie und kam sich ein wenig verloren vor. Denn die Antwort hierauf war die allereinfachste.
    Man kann es nicht.
     
    Einige Zeit später legte sie die Hand in der ihr nun bekannten Weise unter die Tischplatte und beobachtete das Erscheinen der Tür.
    Nun war es an ihr, die abgenutzten Steinstufen hinabzusteigen. Lisens Licht wies ihr den Weg. Der Dolch würde sich dort unten befinden, das wusste sie, mit rotem Blut auf der silbrig blauen Schneide. Einen Leichnam würde sie jedoch nicht vorfinden, denn Ysanne die Seherin hatte sich, da sie in Liebe und durch diese Klinge gestorben war, jenseits der Mauern der Zeit begeben, wohin niemand ihr folgen konnte. Auf ewig verloren. Es war endgültig, absolut. Es war vorbei.
    Und sie hatte man hier in der ersten aller Welten zurückgelassen, um die daraus hervorgegangene Bürde zu tragen.
    Sie säuberte Lökdal und steckte ihn zurück in die Scheide, wobei ein Laut wie von einer Harfensaite erklang. Sie legte den Dolch wieder in den Schrein. Dann erklomm sie erneut die Stufen, die sie in jene Welt emporführten, die sie brauchte, in sämtliche Welten, die brauchten, was sie zu sein schien.
    *
    »O Gott«, rief Kevin. »Es ist Paul!« Bestürztes Schweigen senkte sich herab, überwältigend in seiner Tragweite. Dies war etwas, worauf keiner von ihnen gefasst sein konnte. Ich hätte es wissen müssen, dachte Kevin dessen ungeachtet. Es hätte mir auffallen müssen, als er mir das erste Mal von dem Baum erzählt hat. Bitterkeit, die an Wut heranreichte, ließ seinen Kopf hochfahren …
    »Das muss ein schönes Schachspiel gewesen sein«, fuhr er den König an.
    »Das war es«, erwiderte Ailell nur. Dann: »Er ist zu mir gekommen und hat sich angeboten. Ich hätte ihn nie darum gebeten, ja nicht einmal daran gedacht, ihn zu bitten. Bist du bereit, mir das zu glauben?«
    Und natürlich glaubte Kevin ihm. Es passte einfach zu gut.
    Seine Attacke war ungerecht, weil Paul wahrscheinlich getan hatte, was er hatte tun

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