Simsala. Die Geschichte Eines Kleinen Zauberers.
sah man das Zelt zwischen den Bäumen hervorlugen. Da musste Ruth plötzlich hüpfen, und dann musste sie rennen, und auch Simsalas Füße waren, kaum dass sich das Zirkuszelt gezeigt hatte, wie verhext: Sie mochten nicht mehr hübsch langsam Schritt vor Schritt tun, sondern zogen ihn - und Frau Reiter an seiner Hand - so schnell mit sich fort, als bestünde die Gefahr, zu spät zu kommen. Dabei war noch mehr als eine halbe Stunde Zeit, bis die Vorstellung beginnen sollte. Frau Reiter lachte hell auf und ließ sich gern mit fortziehen. In Reih und Glied standen hinter dem Zelt weiße Zirkuswagen aufgestellt, eine kleine Stadt für sich. Manche der Wagen hatten Gitterstäbe an einer Seite, dahinter konnte man Tiere sehen: Löwen und Tiger und sogar einen Eisbären. Die Kinder staunten sie an.
Auf den Treppen mancher Wagen saßen Zirkusleute. Einige faulenzten einfach und ließen sich von der warmen Sonne bescheinen. Aber da war auch ein Clown, der leise sang und sich auf einer ganz winzigen Gitarre begleitete. Und da waren zwei kleine Jungen, die mit drei Apfelsinen jonglierten. Erst warf der eine sie in die Luft und fing sie wieder. Dann griff der andere geschickt zwischen seinen Armen durch und jonglierte weiter. Den kleinen Zauberer juckte es in den Fingern, mitzumachen, aber da hörten sie plötzlich eine Fanfare: Das Zelt war geöffnet worden. Da ließen sie Tiere und Jongleure allein, um ihren Platz zu finden.
Herr Rössner war großzügig gewesen: Frau Reiter saß mit den Kinder ziemlich nahe an der Manege, wo man alles gut sehen konnte.
Der kleine Zauberer schaute sich um. Wie war das wunderbar hier im Zirkusrund! Es roch so eigenartig, und die Menschen, die hereinströmten, waren so fröhlich und aufgeregt. Die Mädchen, die Zuckerwatte und Popcorn verkauften, hatten so glitzernde Kleider an, und hinter dem Vorhang, der den Eingang der Artisten verschloss, raschelte es manchmal so verheißungsvoll. Auf einmal stieß Ruth dem kleinen Zauberer mit dem Ellbogen in die Seite.
»Schau mal, Simsala, wer dort ist«, flüsterte sie und wies auf eine der oberen Zuschauerreihen. Simsala brauchte eine Weile, bis er entdeckt hatte, wen Ruth meinte. Dann lachte er.
»Das ist ja Herr Martin«, jubelte er, hielt sich aber sogleich die Hand vor den Mund. Es war spannender, wenn der Lehrer sie nicht entdeckte.
»Er hat jemanden dabei«, flüsterte Ruth. »Die Frau, die neben ihm sitzt, gehört zu ihm. Wer das wohl sein mag?«
»Vielleicht seine Mutter«, vermutete Simsala. Aber Ruth schüttelte den Kopf. »Zu jung«, stellte sie sachkundig fest, »kann höchstens seine Schwester sein.« Jedenfalls kannten sie sich gut, denn Herr Martin unterhielt sich ganz munter mit der Frau, die vielleicht seine Schwester war.
Dann blies das Orchester, das über dem Eingang der Artisten Platz genommen hatte, einen schmetternden Tusch, und die Vorstellung begann. Eine Nummer folgte auf die andere. Pferde mit wippenden Federbüschen auf dem Kopf liefen im Kreis, und wenn der Mann in der Mitte mit der Peitsche knallte, dann drehten sie entweder um oder sie stiegen auf die Hinterbeine oder taten sonst etwas Erstaunliches. Kaum waren sie wieder hinausgelaufen, tanzten eine Frau und ein Mann hoch oben in der Zeltkuppel auf einem ganz dünnen Seil. Ruth hielt vor Aufregung schier den Atem an. Simsala fand nichts Aufregendes dabei. Clowns kamen herein und machten ihre Witze. Zwei Frauen in Glitzerkleidern jonglierten mit Keulen. Ein Mann spuckte Feuer. Robben balancierten Bälle auf ihren spitzen Nasen. Akrobaten bildeten eine lebendige Pyramide.
Alles klappte fehlerlos. Nur als ein Mann mit Messern auf eine Frau werfen wollte, die auf ein Brett gespannt war, das sich immer schneller drehte, passierte etwas Seltsames: Die Messer, kaum abgeworfen, verschwanden in der Luft. Es war höchst rätselhaft, und man brach diese Nummer der Vorstellung ab.
»Kennst du den Messerwerfer?«, fragte Ruth den kleinen Zauberer.
»Wieso?«, fragte der zurück. »Ich kenne hier doch niemanden außer Herrn Martin und dich und deine Mutter.«
»Warum hast du ihm denn dann immer gewinkt?«
»Ach, nur so«, brummte Simsala und wollte nicht recht mit der Sprache heraus.
Ruth wartete gar nicht auf eine Antwort. Sie sah nur noch die Schlangenfrau, die sich ungeheuer verbiegen und in ihren Körper fast einen Knoten machen konnte. Das wollte Ruth heute Abend auch probieren. Bei der Raubtiernummer ging dann wieder etwas schief. Als der Tiger durch den brennenden
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