Skalpell Nr. 5
rief Manny und lief hinter den beiden her.
»Dritter Stock. Mein Probenlager.«
Sie betraten einen Raum, von dem Manny vermutete, dass er einst als Boudoir gedient hatte. Noch immer hafteten ihm Spuren von Eleganz an: ein Marmorkamin, Buntglasscheiben oben in den Fenstern, umlaufende Stuckverzierungen mit floralen Motiven unter der Decke. Jetzt jedoch war es ein Männerzimmer – das Zimmer eines verrückten Wissenschaftlers –, angefüllt mit Glasbehältern, die Eingeweide enthielten, Schachteln mit Haaren, einem Mikroskop und schätzungsweise einem Dutzend Kartons mit Knochen, gut verschlossen und beschriftet.
Jake eilte zu einem Karton, auf dem SCHÄDEL stand. »Gott sei Dank«, hauchte er.
»Der Karton ist zugeklebt«, sagte Manny. »Da kann Mycroft den Knochen nicht rausgeholt haben.«
»Sehr richtig, mein lieber Watson.«
Er jagte aus dem Zimmer und die Speichertreppe hinauf. Der Raum mit den Probeexemplaren war ein geordnetes Durcheinander, hier jedoch herrschte das Chaos. Überall auf dem Boden verteilt lagen Kartons, wie nach einem Schiffbruch angespült; Müllsäcke prallvoll mit Papier säumten die Wände; quer durch den Raum führte eine Schmutzspur.
»Mycroft, apport!«, befahl Jake.
Der Hund lief zielsicher zu einer braunen Papiertüte auf dem Boden und begann, darin herumzuschnüffeln. An einer Seite war ein Riss, und Manny konnte sehen, dass sie voller Knochen war.
»Pete«, sagte Jake grinsend, »du raffinierter alter Hund.«
»Was ist da drin?«, fragte Manny.
»Ich hab hier oben alles deponiert, was ich aus Petes Haus geholt habe, und bin noch nicht dazu gekommen, es durchzusehen. Das da« – er zeigte auf die Tüte – »enthält Knochen, die auf dem Feld hinter der Klinik gefunden wurden. Und zwar die wichtigen, vermute ich. Pete muss sie mit nach Hause genommen haben, als er am Montag nach meinem Besuch aus der Leichenhalle kam.«
Ihre Augen wurden groß. »Die Skelette aus Turner?«
Er strahlte vor Begeisterung. »Genau die. Was Ihr goldiger, gehorsamer, genialer Hund uns gebracht hat, war die Kinnlade von Skelett Nummer vier. Ich schätze, der Anhänger ist abgefallen, als Mycroft sie angeschleppt hat.«
Jakes Freude war ansteckend, fand Manny und vergaß für einen Moment den Ernst ihrer Aufgabe. »Warum hat Harrigan wohl die Knochen mitgenommen?«, fragte sie. »Ist das nicht gegen die Vorschrift?«
»Absolut. Also muss er einen guten Grund dafür gehabt haben – obwohl ich mir nicht denken kann, welchen. Auf jeden Fall ist das wohl der Grund, warum er ermordet wurde. Er wusste, was die Knochen beweisen konnten, und er hätte es an die Öffentlichkeit bringen können.«
Er hob die Tüte auf und hielt den Riss mit einer Hand zu. »Gehen wir in mein Arbeitszimmer. Ich hab da ein Gelenkskelett, mit dem wir die Knochen vergleichen können.« Er lachte. »Vor langer, langer Zeit hat Sam mein Haus ab und zu für … private Zwecke benutzt. Eine von seinen Begleiterinnen hat dann mal mit dem Skelett Blues getanzt. Seitdem habe ich niemanden mehr, nicht mal Sam, in mein Arbeitszimmer gelassen.«
Ich fühle mich geehrt, dachte Manny, aber wieso eigentlich? Sie kam sich albern vor.
Jakes Arbeitszimmer war ein großer, gemütlicher Raum im ersten Stock. Die gerahmten Bilder und Urkunden an den Wänden waren offensichtlich mit Liebe arrangiert: eine von Präsident Abraham Lincoln unterzeichnete Begnadigung eines Deserteurs, falls er einen Treueeid auf die Vereinigten Staaten schwor; vier signierte Fotos von Muhammad Ali mit zunehmend wackeliger Handschrift; ein Aufsatz von Jake über die neurologischen Auswirkungen von Schlägen auf das Gehirn eines Boxers. »Ich finde, Boxen sollte verboten werden«, sagte Jake, der Mannys Interesse bemerkte. »Dabei geht es doch nur darum, dem Gegner einen zehn Sekunden dauernden Hirnschaden zuzufügen.«
Vor der rückwärtigen Wand stand ein wuchtiger Eichenschreibtisch, so groß, dass Manny sich nicht vorstellen konnte, wie er überhaupt durch die Tür gepasst hatte. In der hinteren Ecke stand das Skelett. »Das ist echt und stammt aus Indien, aus dem Ganges«, erklärte Jake. »Die Plastikskelette, die im Medizinstudium verwendet werden, sind ja nicht schlecht, aber das Gewicht der Knochen stimmt nicht.« Regale mit Büchern, Knochen und Gewebeproben nahmen eine ganze Wand ein, die Schreibtischplatte dagegen war eine leere Fläche.
Jake stellte die Papiertüte ab und bot Manny den ledernen Drehsessel an. Er nahm verschiedene Umschläge mit
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