Small World (German Edition)
ratlos über ihren plötzlichen Zerfall.
»Weißt du noch?«, »Erinnerst du dich?« fragte er sie immer wieder. Wenn sie ihm erklärte: »Wir waren noch nie zusammen hier«, schaute er sie irritiert an und murmelte: »Natürlich, entschuldige.« Kurz darauf fragte er sie wieder: »Weißt du noch?«, »Erinnerst du dich?«
Schließlich gab Rosemarie es auf, ihn zu korrigieren. Sie lernte, in Erinnerungen zu schwelgen, die nicht ihre eigenen waren. Beide verbrachten noch einmal glückliche Tage auf der Insel seiner ersten großen Liebe.
5
Rosemarie Haug saß im Wohnzimmer und las in der Zeitung, daß Urs Koch, 32, in den Verwaltungsrat der Koch-Werke eingetreten war und die Führung des Elektronikbereichs übernommen hatte. Thomas Koch, 66, war vom operativen Bereich zurückgetreten.
Der Kommentator der Meldung bezeichnete dies als den ersten Schritt zum Machtwechsel in den Werken. Und zwar nicht vom Vater zum Sohn, wie man Außenstehende glauben machen wolle, sondern von der Stiefgroßmutter zum Enkel. Elvira Senn habe zuerst als Vorsitzende des Verwaltungsrates und später als graue Eminenz die Werke mit sicherer Hand geleitet. Der Einfluß des lebenslustigen Thomas Koch auf die operative Führung habe sich während dieser ganzen Zeit in den von Elvira Senn eng gesteckten Grenzen gehalten. Die Einsetzung des talentierten und ehrgeizigen Urs im zwar nicht größten, aber prestigeträchtigen Elektronikbereich werde von Insidern als Zeichen dafür gewertet, daß die Nachfolgeregelung in ihre entscheidende Phase getreten sei.
Rosemarie legte die Zeitung beiseite. Sie wußte nicht, ob Nachrichten aus dem Hause Koch momentan zu den Dingen gehörten, mit denen sie Konrads Interesse fesseln konnte. Seit ihrer Rückkehr aus Capri besuchte sie regelmäßig, manchmal mit ihm, manchmal allein, eine Beratungsstelle für Alzheimerpatienten und deren Angehörige. Sie kam sich dort unter all den gestandenen Ehepaaren zwar etwas fehl am Platz vor. Es war ihr peinlich, daß sie die einzige war, die von ihrem Partner immer wieder verwechselt wurde, obwohl die übrigen Symptome bei den meisten anderen viel weiter fortgeschritten waren. Aber sie tat es, denn irgend etwas mußte sie tun.
Konrad machte dort Übungen fürs Gedächtnistraining, die sie zu Hause mit ihm fortsetzte. Sie hielt sich auch brav an die anderen Ratschläge, nannte ihm immer wieder Datum und Wochentag, unterhielt sich mit ihm über Ereignisse des vergangenen Tages, hielt ihn dazu an, sein Zimmer aufzuräumen, hörte Musik mit ihm, las ihm aus der Zeitung vor und versuchte herauszufinden, womit sie sonst sein Interesse wecken und seine Beziehung zur Realität wachhalten konnte.
Aber es fiel ihr immer schwerer, ihn einzuschätzen. Manchmal interessierten ihn Dinge, für die er in den anderthalb Jahren, seit sie ihn kannte, nie das geringste Interesse gezeigt hatte: Fußballresultate, Lokalpolitik, Hundeausstellungen. Dann wieder konnte er stundenlang vor sich hin starren und nur abwesend nicken, wenn sie seine Lieblingsthemen anschnitt: Chopin, Capri, die Kochs. Manchmal konnte er unvermittelt sagen: »Gloria von Thurn und Taxis hat dem Fürsten zum Sechzigsten einen Geburtstagskuchen mit sechzig Penissen aus Marzipan machen lassen. Er war nämlich schwul. Aber das wußten nur Eingeweihte.«
Kurz nach Capri hatte Konrad zum erstenmal gegen Rosemarie im Backgammon verloren. Nicht lange darauf hatte er Mühe bekundet, das Spiel zu verstehen. Jetzt spielten sie es schon lange nicht mehr.
Auch zu kochen hatte er aufgehört. Immer öfter war er ratlos in der Küche gestanden und konnte sich nicht entscheiden, was in welcher Reihenfolge zu tun sei. Immer häufiger mußte Rosemarie einspringen und aus dem Chaos von halbgerüsteten Zutaten etwas improvisieren.
Eine Zeitlang waren sie noch ab und zu in ein Restaurant gegangen. Aber Konrad hatte mehr und mehr Schwierigkeiten, sich für ein Menü zu entscheiden. Sein langsames Essen hatten Küche und Bedienung so aus dem Rhythmus gebracht, daß sie auch die Restaurantbesuche aufgegeben hatten.
Das Klavier rührten sie auch nicht mehr an. »Es sagt mir nichts mehr«, behauptete Konrad, wenn sie vorschlug, gemeinsam eines ihrer zweihändigen Stücke zu spielen, die noch aus dem Repertoire ihrer ersten Bekanntschaft stammten.
Eines Tages war sie vom Einkaufen nach Hause gekommen und hatte ihn belauscht, wie er verzweifelt versuchte, einen seiner virtuosen einhändigen Läufe zu spielen. Es klang, wie wenn ein Kind
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