So wie ich will - Mein Leben zwischen Moschee und Minirock
Falsches sagen: Vielleicht gibt es in einigen Orten Vereine oder Organisationen, die dort einflussreicher sind, doch bundesweit gesehen dürfte die Türkische Gemeinde die wichtigste Organisation für Türken und Türkischstämmige sein, wovon es immerhin über zwei Millionen in Deutschland gibt. Man muss sich das vorstellen wie eine große parteiunabhängige Interessenvertretung. Ihr oberstes Ziel ist die rechtliche, soziale und politische Gleichstellung und Gleichbehandlung der Türken. Sie kämpft gegen deren Diskriminierung, gegen Ausländerfeindlichkeit überhaupt. Zudem setzt sie sich dafür ein, dass Türken sich besser in die deutsche Gesellschaft integrieren können, ohne dabei ihre kulturelle Identität aufgeben zu müssen.
Klingt alles hochpolitisch, dabei sind es oft kleine Schwierigkeiten im Alltag, bei denen die Türkische Gemeinde den Leuten zur Seite steht. Rechtsberatung ist beispielsweise ein ziemlich wichtiger Punkt. Die wenigsten kennen sich mit den deutschen Gesetzen aus. Wahrscheinlich höre ich mich jetzt selbst so an, als wäre ich ein Funktionär von denen. Wie soll man solche Dinge aber auch ausdrücken? Kein Wunder, dass Politiker oft so geschwurbelt reden. Aber die Wahrheit ist: Als ich damals mit Tante Zeynep sprach, wusste ich selbst kaum etwas darüber. Ich wusste, dass es die Türkische Gemeinde und den Türkischen Bund gibt, viel mehr aber auch nicht.
Nach dem Gespräch mit Tante Zeynep vergaß ich den Bundestag. Das Anwaltsbüro hatte ich gedanklich ohnehin gestrichen, nachdem ich gehört hatte, dass man da in zwei Wochen sowieso nichts mitbekommt. Stattdessen fuhr ich
an meinem nächsten freien Nachmittag zum Hauptsitz der Türkischen Gemeinde in Deutschland, der liegt mitten in Kreuzberg, bewarb mich für ein Praktikum - und wurde genommen.
Wahrscheinlich kennt jeder diese Kahvehane (Kaffeehäuser nach orientalischem Vorbild) von türkischen Kulturvereinen, die man in den meisten deutschen Städten in irgendeiner Ecke findet. Zur Straße hin eine große Schaufensterscheibe, meist mit blickdichten Vorhängen, hinter denen alte Männer auf Stühlen hocken und Tee oder Kaffee trinken, morgens, mittags oder auch abends, egal, zu welcher Zeit man vorbeikommt. So sieht es bei der Türkischen Gemeinde nicht aus. Die Räumlichkeiten erinnern eher an eine Arztpraxis oder eine stinknormale Bürogemeinschaft. Ein langer Flur mit weißen Wänden, an denen Plakate mit politischen Losungen hängen. Rechts und links davon gehen die Türen der einzelnen Büros ab. Auf dem Boden dunkelgrauer Teppich. An der Decke fahles Licht, das einem das Gefühl für die richtige Tageszeit stiehlt. Kenan Kolat, der Bundesvorsitzende, sitzt allerdings in einem anderen Gebäude, ganz in der Nähe. Die Geschäftsstelle dort liegt im Erdgeschoss und sieht aus wie eine umfunktionierte Altbauwohnung. Da kam ich aber erst später hin.
Zunächst steckten sie mich zu einem Projekt, mit dem Jugendliche mit Migrationshintergrund angespornt werden sollten, sich um einen Ausbildungsplatz zu kümmern und ihre Lehre dann auch bis zum Ende durchzuziehen. »Youngsters for Best Practice« hieß das. Dieser Slogan sollte sich wohl cool und jugendgemäß anhören.
Als ich anfing, war das Projekt schon so gut wie gelaufen.
Ich sollte noch helfen, die Abschlussveranstaltung vorzubereiten. Dabei waren weniger politischer Aktivismus als handwerkliches Geschick und Computerkenntnisse gefragt: Mappen falten, die Kosten für das Bedrucken von Luftballons herausfinden, irgendwelche Listen mit Excel erstellen.
Sie übertrugen mir aber noch eine andere Aufgabe, einen typischen Praktikantenjob, vergleichbar mit Kaffeekochen: Ich hatte jeden Tag die Post, die für den anderen Teil des Hauptquartiers bestimmt war, dorthin zu bringen. Ein kurzer Spaziergang von vielleicht fünf Minuten für jede Strecke. Das ist es, was ich eingangs meinte: Ich war zufällig bei der Türkischen Gemeinde gelandet, das war ja alles Tante Zeyneps Einfall gewesen. Ich kam dort nicht mit einer Mission an, die die Welt verändern sollte. Ich erledigte einfach, was man mir auftrug, fand die Beschäftigung ganz okay, aber nicht übermäßig spannend und ging ansonsten davon aus, dass nach zwei Wochen alles vorüber sein würde.
Doch dann ergab es sich, dass mich eines Tages Kenan Kolat, der Bundesvorsitzende, auf meinem Postgang begleitete. Auch das kann nur reiner Zufall gewesen sein. Er hatte bei uns eine Besprechung gehabt, wollte nun in sein Büro zurück und
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