Söhne und siechende Seelen
hatte, was sein schlechtes Gewissen noch verstärken sollte. Der Salat, der eigens mit einem Teller zugedeckt worden war, damit die Vitamine sich nicht verflüchtigten, evozierte einen Seelenzustand, gegen den die Leiden des jungen Werthers nur eine Farce darstellten. Während meine Mutter am Fenster hin und her tigerte und meinem Vater und dem Weib, das sie miteinander bekannt gemacht hatte, die Pest an den Hals wünschte, saß ich mit einem Schälchen Sonnenblumenkerne, die ich aus dem Festtagsvorrat meiner Mutter stibitzt hatte, vor dem Fernseher und wollte nur noch sterben. Der Typ auf dem Bildschirm mit dem fetten Leberfleck im Gesicht schrie aus voller Lunge eines dieser Volkslieder aus der Gegend von Ankara, und Pelin saß mit ihrem gewohnten eingefrorenen Grinsen auf ihrem angestammten Platz auf dem Fernseher und beobachtete uns. Summa summarum: Unsere Lage entsprach dem leidvollen Szenario einer schlechten Komödie.
Als mein Vater dann endlich irgendwann des Nachts mit einer winzigen Alkoholfahne zurückkehrte, waren meine Lippen vom Sonnenblumenkerneknacken recht zerknittert. Was dann kam, folgte exakt dem Ablauf, den ich erwartete. Das wütende Schweigen meiner Mutter, die nervtötende Gleichgültigkeit meines Vaters, erstes Gezänk und nach ein, zwei sich von Anfang als völlig zwecklos erweisenden Mahnungen, doch nicht vor dem Kind zu streiten, der Ausbruch des Gewitters. Während gegenseitige Schuldzuweisungen, Verwünschungen und Flüche durch die Luft flogen, wollte ich mich in mein Zimmer flüchten, aber es war mir unmöglich, mich von der Stelle zu rühren. Mein Gehirn konnte nur einen einzigen Befehl an meinen Körper aussenden: Knack Sonnenblumenkerne! Gerade als ich dachte, sie hätten genügend Gift und Galle gespuckt und würden sich ein wenig beruhigen, streute meine Mutter jenes gefürchtete Zauberwort in ihre Rede ein: ERZURUM! Und so brach ein neuer Streit vom Zaun. Es war nicht zum Aushalten. Ich musste dieser Entwicklung Einhalt gebieten. Ich musste unverzüglich aufstehen und meine Auflehnung zum Ausdruck bringen und ihnen zeigen, wie sehr sie meine kindliche Seele in Stücke rissen. Mit einer herzergreifenden Rede, wie Vergleichbares nur in Filmen aus der Feder meisterhafter Hollywoodautoren zu finden ist, musste ich sie auf den Gedanken bringen, dass sich hinter all dem rebellischen und ungezogenen Gebaren ein liebesbedürftiges Kind verbarg. Ich musste zündende Worte wählen, die sogleich in jede Windung ihrer eiskalten Herzen vordrangen und mein Leben auf magische Weise in ein Feenmärchen verwandelten. Wutentbrannt sprang ich auf die Füße. Als dabei das Schälchen mit den Kernen von meinem Schoß zu Boden fiel und zerbrach, verstummten meine Eltern und wandten sich zu mir. Ich richtete meinen Blick in die Ferne und brüllte: »Es gibt gar keinen Erzurum-Honig!«
Seltsam, aber dieser Satz beendete den Streit abrupt. Meine Mutter versank in Tränen, mein Vater schnappte sich seinen alten grauen Regenmantel vom Kleiderständer und verließ die Wohnung. Nachdem meine Mutter sich ausgeheult hatte, kam sie zu mir und ergriff meine Hände. »Es ist nichts, Junge, alles in Ordnung, sei nicht traurig«, wimmerte sie schniefend. Wahrscheinlich hielt sie mich wirklich für so hirnlos, zu glauben, es gäbe kein Problem, und wahrscheinlich brachte sie es bloß nicht über die Lippen zu sagen: »Dreh nicht durch.«
Nachdem meine Mutter die Scherben vom Boden aufgesammelt hatte, ging sie zu Bett. Als Gegenleistung für das, was ich gerade durchgemacht hatte, protestierte sie nicht, dass ich vor dem Fernseher herumhing. Es verging vielleicht eine halbe Stunde, da vernahm ich ein leichtes Klopfen an der Tür. Zuerst dachte ich, es sei mein Vater. Aber warum benutzte er nicht seinen Schlüssel? Um so betrunken zu sein, dass er nicht einmal mehr das Schlüsselloch fand, war zu wenig Zeit vergangen. Es war doch hoffentlich nicht einer meiner Feinde wie Gazanfer, Erkin Abi oder Ruhan Bey, die den Wunsch hegten, mich Hicabi Bey hinterherzuschicken? Durch das Guckloch war nix zu erkennen. »Wer ist da?«, fragte ich flüsternd.
»Rebi«, lautete die Antwort von draußen. Sollte ein Feind vor der Tür stehen, könnte dies durchaus gelogen sein, doch die Tatsache, dass er seinen Namen in gleicher Weise wie ich kaum hörbar flüsterte, war ein untrügliches Zeichen dafür, dass es Rebi Abi sein musste. Neben Hakan war er der Einzige, den ich kannte, der so dämlich sein konnte. Ich öffnete die
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