Solang die Welt noch schläft (German Edition)
interessiert, dachte Josefine, sagte aber stattdessen in versöhnlichem Ton: »Lass uns noch einen Schlenker zum Zoologischen Garten machen.«
Sogleich hellte sich Isabelles Miene auf. So früh, wenn die Stadt noch schlief, war das Leben hinter den Zoomauern längst erwacht. Schrilles Vogelkreischen, das Trompeten eines Elefanten und Tierlaute, die Jo nicht zuordnen konnte, durchschnitten die morgendliche Frische. Es roch nach Heu und Abenteuern.
»Dann lass uns aber auch schauen, ob der Zaun irgendwo ein Loch hat. Falls ja, schlüpfen wir hindurch und statten den Elefanten einen Besuch ab.«
Josefine seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass die Fabrikantentochter eine solch tollkühne Idee äußerte – das Velofahren allein war ihr an manchen Tagen einfach zu langweilig. Jo hatte für derlei Kapriolen kein Verständnis – sie wollte ihre knapp bemessene Zeit allein zum Velofahren nutzen.
Eine Zeitlang fuhren sie schweigend nebeneinander durch die langsam erwachende Stadt. Erst als die hohen Mauern des Zoos in Sicht kamen, ergriff Isabelle wieder das Wort.
»Ist es nicht unglaublich, wie frei man sich fühlt? So als habe man keine einzige Sorge auf der Welt«, sagte sie in fast andächtigem Ton.
Jo nickte stumm. Sie wusste ganz genau, was die Freundin fühlte, wenn die Welt an ihnen vorbeiflog.
Sie fanden tatsächlich ein Loch im Zaun des Zoologischen Gartens. Isabelle, die ein wenig kleiner als Josefine war, wand sich flink hindurch und veranstaltete auf der anderen Seite des Zauns einen Freudentanz. Als Josefine ihr folgen wollte, blieb sie an einem kaputten Stück Draht hängen und riss sich den linken Arm und Ellenbogen blutig. Nur eine oberflächliche Wunde, winkte sie ab, dennoch wurde daraufhin der Elefantenbesuch verschoben.
Als sie das Herrenhus’sche Anwesen erreichten, pochte und prickelte die offene Wunde unangenehm.
»Beeil dich«, sagte Jo zu Isabelle, »ich möchte schnell nach Hause, die Wunde auswaschen.«
Doch Isabelle hatte den Torknauf noch nicht in der Hand, als das Tor von innen aufgerissen wurde und Moritz Herrenhus vor ihnen stand. Er trug einen karierten, speziell fürs Velofahren entworfenen Anzug – die neueste Mode unter den Männern von Welt. Breitbeinig und mit vor dem Wanst verschränkten Armen baute er sich vor den jungen Frauen auf.
»Habe ich es mir doch gedacht!« Obwohl er betont ruhig sprach, spürte Jo, dass der Mann innerlich vor Wut bebte.
»Vater …« Aus Isabelles Gesicht wich das letzte bisschen Blut.
Der Unternehmer holte tief Luft. »Da möchte ich mir ausnahmsweise einmal eine Fahrt mit meinem Rover gönnen – und was finde ich, als ich den Schuppen öffne? Gähnende Leere und einen Stapel Frauenkleider! Ich dachte, ich sehe nicht richtig. Habe ich euch das Velofahren nicht ausdrücklich verboten? Auf der Straße sowieso! Doch damit nicht genug, verkleidet ihr euch in dieser … affigen Weise! Das ist die Höhe der Impertinenz«, schimpfte Herrenhus erzürnt. Sogleich öffneten sich weitere Fenster in der Straße, neugierige Köpfe reckten sich nach draußen. Grob packte der Fabrikant seine Tochter und Jo am Arm und zerrte sie in den Hof.
»Eine Erklärung, und zwar sofort!«, herrschte er sie an, kaum dass das Tor zu war.
Außer einem Wimmern war von Isabelle nichts zu hören.
Vergessen war Jos blutender Arm, mit dem Mut der Verzweiflung räusperte sie sich. »Es ist … ganz anders, als Sie denken. Isabelle und ich, wir …« Ihr Mund war so trocken, dass die Zunge fast am Gaumen klebte. Bitte, lieber Gott, eine Ausrede!
»Isabelle erzählte mir, dass Sie Anfang August einen runden Geburtstag feiern. Und da kam mir der Gedanke zu einer ganz besonderen Überraschung.« Die Worte kullerten jetzt geradezu spielerisch aus ihrem Mund. Sie spürte Isabelles entsetzten Blick auf sich ruhen und sprach hastig weiter: »Ihre Tochter und ich üben derzeit ein kleines … Theaterstück ein, in dem es um zwei Velozipedfahrer geht. Sie haben uns doch so viele spannende Dinge über dieses moderne Steckenpferd erzählt, daraus wollen wir eine originelle Szene machen. Aber wir haben bisher heimlich geübt, nicht hier im Hof, wo Sie alles mitbekommen. Schließlich wollten wir damit Sie und Ihre Gäste überraschen, nicht wahr, Isabelle?«
Isabelles Augen hatten sich vor Erstaunen geweitet. Dennoch beeilte sie sich zu nicken. »Ich war von Josefines Idee sofort angetan«, sagte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme. »Wo du doch so viel für mich
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