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Sommer der Nacht

Titel: Sommer der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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das Gesicht ans Glas drückte. Er erkannte sie sofort.
    Mrs. Duggan, Mrs. Doubbets Ex-Partnerin, war immer mager gewesen. In den Monaten, als der Krebs sie heimgesucht hatte, bis sie vor Weihnachten das Unterrichten aufgab, war sie noch dünner geworden. Harlen erinnerte sich, ihre Arme waren kaum mehr gewesen als Knochen und fleckige Haut. Niemand aus der Klasse hatte Mrs. Duggan in den letzten Wochen vor ihrem Tod im Februar gesehen - oder bei der Beerdigung -, aber Sandy Whittakers Mom hatte sie zu Hause besucht und bei der Beerdigung gesehen, und sie hatte Sandy gesagt, die alte Dame wäre am Ende nur noch Haut und Knochen gewesen.
    Harlen erkannte sie sofort.
    Er sah einmal zu Old Double-Butt - diese war nach vorn gebeugt, lächelte breit und konzentrierte sich völlig auf ihre Partnerin am Tisch -, dann wanderte sein Blick wieder zu Mrs. Duggan.
    Sandy hatte gesagt, Mrs. Duggan wäre in ihrem besten Seidenkleid begraben worden - dem grünen, das sie an ihrem letzten Schultag zur Weihnachtsfeier angehabt hatte. Dieses Kleid trug sie auch jetzt. Es war an einigen Stellen verfault, dort schien die Phosphoreszenz durch.
    Das Haar der alten Dame war immer noch sorgfältig zurückgekämmt und wurde von den Spangen aus Schildkrötenpanzer gehalten, die Harlen auch im Unterricht aufgefallen waren, aber es war teilweise in Büscheln ausgefallen, und da sah man Stellen der Kopfhaut weiß glänzen. In der Kopfhaut waren Löcher, so wie in ihrem Kleid Löcher waren.
    Aus drei Schritt Entfernung konnte Harlen Mrs. Duggans Hand auf dem Tisch sehen - die langen Finger, den weiten Goldring, den schwachen Schimmer von Knochen.
    Mrs. Doubbet beugte sich näher zum Leichnam ihrer Freundin und sagte etwas. Sie sah verwirrt drein und blickte zum Fenster, wo Harlen kauerte und die Knie an den Sims drückte.
    In diesem letzten Augenblick wurde ihm klar, daß er Zu sehen sein mußte - daß der Schimmer sein Gesicht vor der Scheibe ebenso beleuchten mußte wie die freiliegenden Sehnen, die wie Spaghetti unter den Rissen in Mrs. Duggans Handgelenken glommen, ebenso wie die dunklen Schimmelpilzkolonien unter der durchscheinenden Haut - oder dem, was von der Haut noch übrig war.
    Aus den Augenwinkeln sah Harlen, daß Old DoubleButt sich umgedreht hatte und ihn betrachtete, aber er konnte den Blick nicht von Mrs. Duggans Nacken wenden, wo die pergamentartige Haut umklappte und Wirbel sich sichtbar bewegten wie weiße Steine unter einem verfaulten Tuch.
    Mrs. Duggan drehte sich um und sah ihn an. Aus zwei Schritt Entfernung brannte das phosphoreszierende Leuchten durch den dunklen Tümpel der Fäulnis, wo ihr linkes Auge gewesen war. Zähne leuchteten in einem lippenlosen Lächeln, als sie sich nach vorn beugte, wie um Harlen durch die Fensterscheibe hindurch zu küssen. kein Atem beschlug das Glas.
    Harlen stand auf, drehte sich um und lief weg, ohne daran zu denken, daß er auf einem schmalen Sims acht Meter über Kies und Beton kauerte. Aber auch wenn er daran gedacht hätte, wäre er weggelaufen. Er schrie nicht, als er fiel.


    Mike liebte das Ritual der Messe. An diesem Sonntag half er Pater Cavanaugh - wie an allen Sonntagen, ausgenommen besonderen heiligen Tagen - bei der regulären Messe um halb acht und blieb dann als oberster Meßknabe für die Hohe Messe um zehn. Die Frühmesse war natürlich die gut besuchte, da die meisten Katholiken in und um Elm Haven die zusätzliche halbe Stunde der Hohen Messe nur auf sich nahmen, wenn es sich nicht vermeiden ließ.
    Mike bewahrte immer ein Paar braune Halbschuhe in dem Zimmer auf, das Pater Cavanaugh Kanzel nannte; dem alten Pater Harrison hatte es nichts ausgemacht, wenn die Meßknaben Turnschuhe unter dem Meßgewand anhatten, aber Pater C. hatte gesagt, an der Eucharistie mitzuwirken erfordere, daß man größeren Respekt zeigte. Mikes Dad hatte wegen der Kosten geschimpft. Mike hatte vorher noch nie ein zusätzliches Paar guter Schuhe gehabt - sein Dad hatte gesagt, es wäre schwer genug, Kleider für die vier Mädchen zu kaufen -, aber letztendlich konnte sein Vater keine Einwände dagegen erheben, Gott Respekt zu zeigen. Mike trug die Halbschuhe ausschließlich in St. Malachy's, und auch da nur während der Messe.
    Mike gefiel jeder Aspekt der Kirchentätigkeit, und je mehr er tat, um so besser gefiel es ihm. Als er vor fast vier Jahren als Meßknabe angefangen hatte, hatte Pater Harrison wenig von den paar Jungs verlangt, die dazu bereit waren, davon abgesehen, daß sie

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