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Song of the Slums

Song of the Slums

Titel: Song of the Slums Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Harland
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Grube.

• 16 •
    Astor war die Lust aufs Klavierspielen vergangen. Auch ein Ausflug auf das Dach des Türmchens lockte sie nicht mehr, selbst als das Wetter nicht mehr so nass war. Morgens quälte sie sich aus dem Bett, und abends legte sie sich früh hin. Allein der Gedanke an den Unterricht verursachte ihr schon ein Stechen im Magen.
    Widdy war derselbe wie immer, gesteuert von dem, was ihm gerade in den Sinn kam, egal was der Rest der Welt davon hielt. Presters männliche Eitelkeit konnte nach wie vor durch Schmeicheleien manipuliert werden. Zwar musste sie seine Angebereien ertragen, aber solange es ihm wichtig war, vor
ihr
anzugeben, konnte sie ihn unter Kontrolle halten. Blanquette jedoch war jetzt eine offene Gegnerin. Sie hatte einerseits genug Einfühlungsvermögen, um zu verstehen, wie Astor sich fühlen musste, und andererseits genug Bosheit, um Astors Gefühle an den empfindlichsten Stellen zu verletzen. Die Häme, die Blanquette bislang gegen Prester eingesetzt hatte, war nichts verglichen mit der Häme, die sie jetzt gegen ihre Hauslehrerin versprühte.
    An manchen Tagen betraf es Astors Familie. »Ach, was für eine überragende Hauslehrerin wir haben. Die Tochter eines berühmten Generals. Oder – wartet mal – war es ein bettelarmer Musiker?« An anderen Tagen nahm sie sich Astors Eigenheiten und ihre Aussprache vor. »Aus London Town, wer hätte das gedacht.« Wenn Astor mit einem Kommentar bezüglich des Brummingham-Akzents ihrer Peinigerin reagierte, verzog Blanquette ihre Lippen nur zum süßesten Lächeln. »Ach, seht doch nur, sie versucht zurückzuschnappen! Gut gemacht, wirklich gut gemacht! So unheimlich scharfzüngig und geistreich!«
    Schon bald hatte Astor begriffen, dass es besser war, den Mund zu halten. Sie konnte mit dem Swale-Mädchen nicht mithalten, das ein außergewöhnliches Talent besaß, Häme und Spott über andere auszugießen.
    Die schmerzlichste Verhöhnung aber war, wenn Blanquette Astors Intelligenz in den Dreck zog. »Pass auf, Prester! Achtung, Widdy! Unsere Geistesgröße wird gleich wieder etwas von sich geben.«
    Es half auch nichts, wenn Prester versuchte, sie zu verteidigen. Blanquette konnte seine Einwände wegpusten wie ein Staubkorn. »Du denkst, sie ist eine gute Hauslehrerin, was Prester? Aber du denkst ja auch, dass es einen Akt höherer Intelligenz darstellt, seine Schnürsenkel selbst zubinden zu können.«
    Prester gab es bald wieder auf, eine eigene Meinung zu haben. Stattdessen kicherte er nun über Blanquettes Gemeinheiten, selbst wenn er sie oft gar nicht recht verstand.
    Blanquette war die Spinne in der Mitte des Netzes, die jeden Faden unter ihrer Kontrolle hatte. Astor begann selbst den Anblick ihres aufgedunsenen Körpers zu verabscheuen, dessen Speckrollen über den Stuhl quollen, wenn sie eingequetscht hinter ihrem Schulpult saß. Sie fand es einfach nicht richtig, dass eine so grotesk aussehende Person sich so weit über andere erheben durfte. Doch Blanquette war immun gegen jeden möglichen Kommentar bezüglich ihres Gewichts.
    »Kein Grund,
meinetwegen
die Augen zu verdrehen«, sagte sie eines Tages zu Astor beim Mittagessen. »Ich esse gern. Ich bin der Wal im Saal.« Sie schnaufte vor Entzücken. »Was soll’s? Ich bin und bleibe eine Swale. Sie müssen hungern, um ihre zierliche Figur in Form zu halten, denn das ist alles, was Sie haben.«
    Astor war hilflos. Und es wurde noch schlimmer, als Widdy begann, Spaß daran zu finden, allerlei Fallen auszulegen. Er platzierte Murmeln unauffällig auf dem Fußboden, er stapelte Astors Bücher zu Türmen, die bei der leichtesten Berührung in sich zusammenbrachen, und er lockerte die Schrauben des dreibeinigen Gestells, auf dem die Tafel stand. Als die Tafel dann zu Boden krachte, verfehlte sie Astors Zehen nur um ein Haar. Am liebsten hätte Astor ihn angeschrien, stattdessen musste sie aber so tun, als sei es ein Unglücksfall gewesen, und ganz ruhig die Schrauben wieder befestigen.
    Sie musste oft so tun, als handele es sich um einen Unglücksfall, oder aber die Situation ganz und gar ignorieren. So wie Widdys Angriffe – wiederholt rannte er mit voller Kraft einfach in sie hinein – oder das Verschwinden ihrer Stifte und der Kreide oder die auf den Boden geworfenen Essensreste. Sie schaffte es, das Gekicher und Gegacker ihrer Schüler zu überhören und Papierflieger oder andere umherfliegende Gegenstände zu übersehen. An guten Tagen verbrachte sie nicht mehr als eine halbe Stunde

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