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Sozialisation: Weiblich - männlich?

Titel: Sozialisation: Weiblich - männlich? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Hagemann-White
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festgestellt bei der Fellpflege, beim Lausen sowie beim Begrüßungsverhalten; dies sind Bereiche, die beim Menschen weniger untersucht worden sind. Außerdem ist die Mutter-Kind-Beziehung etwas stabiler bzw. dauerhafter als andere Beziehungen, und das Muttertier hat die Hauptverantwortung für die sehr jungen Tiere
(Martin/Voorhies
1975, S. 141;
Tanner/ Zihlmann
1976). Keine Geschlechtsunterschiede werden beobachtet bei der sonstigen Aufgabenverteilung, den Fähigkeiten, der Aggressivität, der Reichweite ihrer Aktionsfelder oder der Dominanz. Die überzeugendste Schlußfolgerung wäre, daß mit zunehmender Nähe der Affenarten zu den Menschen eine deutliche Despezialisierung der Geschlechter stattfindet. Wahrscheinlich kann nicht einmal mit Sicherheit davon ausgegangen werden, daß bei den frühesten Menschen die Pflege der Kleintiere nach Geschlecht biologisch vorbestimmt war. Von diesen Voraussetzungen ausgehend hat
Cucciari
(1981) ein sehr interessantes Modell entworfen, wie aus der biologisch nicht mehr differenzierten „Urhorde“ der ersten Menschen die Trennung von Aufgabenbereichen nach Geschlecht und die relative Dominanz des männlichen Geschlechts entstanden sein kann.
    Die Annahme biologisch begründeter Geschlechtsunterschiede wird gern mit dem Hinweis auf
interkulturelle Vergleiche
abgestützt. Zwar hat sich in der Völkerkunde und der Soziologie die Suche nach universellen Konstanten als naive Täuschung herausgestellt; die heute ernstzunehmenden Ansätze einer theoretischen Integration sind eher strukturalistisch ausgerichtet oder stehen in der Tradition des Auffindens von Zusammenhängen zwischen materiellen Bedingungen und sozialen Verhältnissen. In der Psychologie werden jedoch noch gerne Behauptungen über die Universalität von Verhaltensmerkmalen aufgestellt.
    Die Verwendung des Kulturvergleichs zur Beweisführung für biologische Ursachen geht von drei Annahmen aus, die bei näherer Betrachtung nicht haltbar sind. Es wird vorausgesetzt, daß biologisch verursachte Unterschiede
in allen Gesellschaften erscheinen müßten,
unveränderbar sind, und daß
ein Merkmal, das in allen uns bekannten Kulturen erscheint, biologisch verursacht sei.
    Schon Beispiele von Individuen zeugen davon, daß relative Schwächen motivierend wirken können und durch intensives Training sogar in überdurchschnittliche Fähigkeiten umgemünzt werden. Erbliche Vorgaben können durch körperliche, seelische und geistige Förderung und durch die Wirkung sozialer Erwartungen positiv oder negativ überlagert werden. Biologische Unterschiede können also bei einigen Kulturen unterdrückt werden, sie müssen nicht zwangsläufig überall erscheinen. Andererseits sind biologische Grundlagen nicht zeitlos. Sie können, wie etwa heute die Gebärfähigkeit und ihre möglichen Verhaltensfolgen, durch Technologie (z. B. Verhütung) und gesellschaftlichen Bedingungen (Überbevölkerung u.a.) ihre Wirksamkeit verlieren. Wir sollten nicht übersehen, daß es in der Menschheitsgeschichte auch andere, ebenso folgenreiche „Einbrüche“ der Technologie gegeben hat: den Übergang zum Werkzeuggebrauch, zur Jagd, zu Ackerbau und Viehzucht, die Industrialisierung. Sie können alle dazu geführt haben, daß eventuell früher vorhandene biologische Grundlagen für das Verhalten überflüssig oder außer Kraft gesetzt wurden.
    Schließlich beweist die Universalität von Verhalten in allen uns bekannten Kulturen nichts über die Biologie. Es könnte sich auch um strukturelle Ähnlichkeiten in den Umständen der Menschwerdung oder aber in den Möglichkeiten der Bildung überlebensfähiger sozialer Gruppen bei primitiver Technologie handeln, die zu weitverbreiteten Erscheinungen führen. 4
    Es gibt keine biologisch angelegte Verhaltenstendenz – einschließlich des Selbsterhaltungstriebes – die nicht aus kulturellen Gründen überwunden werden könnte. Beispiele (Askese, Kamikaze, Hungerstreik) sind leicht aufzuzählen. So führen auch geringe Korrelationen oder fehlende Universalität nicht ohne weiteres zur Aufgabe der biologischen Hypothese. Es können biologische Tendenzen angenommen werden, deren kulturelle Überformung sie nur noch schwach durchscheinen läßt. Umgekehrt können dieselben schwach aufscheinenden Tendenzen als Beleg dafür gelten, daß der normative Druck der Kultur trotz vollends fehlender biologischer Grundlage seine Wirkung tut.
    Als Warnung vor der Verlockung zu biologischen Erklärungen sollte vielleicht daran

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