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Sozialisation: Weiblich - männlich?

Titel: Sozialisation: Weiblich - männlich? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Hagemann-White
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einmal „mitspielen“ durften, und in der nächsten Stunde mußten sie diesen Wunsch erneut gegen den Lehrer durchsetzen. Man stelle sich vor, die Lehrerin würde die Jungen auf den Hof zum Spielplatz schicken, während sie den Leseunterricht ausschließlich mit den Mädchen durchführt – mit der Behauptung, die Mädchen hätten mehr Spaß am Lesen und würden eher stillsitzen!
Die feststellbaren Unterschiede im Sozialverhalten liegen in der Dimension Herrschaft/Unterordnung. In einer Gesellschaft, in der sowohl öffentliche wie private Gewaltausübung überwiegend bis ausschließlich Männern vorbehalten ist, können diese Unterschiede im Verhalten von Kindern als Schritte im Erlernen der Normen unserer Kultur verstanden werden.
Schätzungen über die Verbreitung familiärer Gewalt reichen bis zu der Vermutung, daß in jeder zweiten Ehe die Frau geschlagen wird
(Walk er
1979). Die Auswirkung miterlebter Mißhandlung der Mutter auf Mädchen und Jungen ist geschlechtsspezifisch
(Hagemann-White/Kavemann
u.a. 1981). Die Verteilung aggressiven Verhaltens bei Jungen ist wahrscheinlich nicht die der „Normalkurve“, sondern wird durch eine Häufung von extremer Aggressivität nach oben geschoben, weil ein Teil der Söhne aus Mißhandlungsehen sich mit dem gegen die Mutter hemmungslos aggressiven Vater zu identifizieren begonnen haben. Umgekehrt kann es eine Häufung von ungewöhnlich aggressionsgehemmten Mädchen geben, die beispielsweise schon bei dem Wutausbruch eines anderen Kindes (der gar nicht auf sie bezogen war) Schweißausbrüche und Herzklopfen erleben. Diese Erscheinungen scheinen von den Familienerfahrungen sehr unterschiedlich beeinflußt zu werden und können nicht als allgemeine Folgen „weiblicher“ oder „männlicher“ Sozialisation angesehen werden.
Jede Gesellschaft gibt Aggressionsformen vor, legitimiert einige Anlässe und Äußerungsformen und tabuiert andere, bewertet Aggressionsverhalten unterschiedlich und bestimmt den Personenkreis, gegen den Aggressivität zugelassen wird. Die gesellschaftliche Einschränkung aggressiver Regungen fordert allen Individuen eine partielle Unterdrückung oder Beherrschung dieser Impulse ab. Im Verhältnis dazu ist es, gesellschaftlich gesehen, ohne Belang, inwiefern einige Individuen (aus hormonellen oder anderen Gründen) etwas mehr an Aggressivität zu bewältigen haben als andere. Das Extrem des weiblichen Idealbildes, das die Unterdrückung aller aggressiver Regungen verlangte, ist heute sicherlich ebenso dysfunktional geworden wie das Extrem des männlichen Idealbildes, in dessen Tradition noch ein Vater seinen kleinen Sohn öffentlich verspottet, wenn er am Spielplatz einen anderen Jungen nicht verfolgt und schlägt. Das Verhalten von Mädchen und Jungen in bezug auf Aggression, Gehorsam/Trotz und Angst wird nachhaltig beeinflußt durch die Machtverhältnisse und den Machtmißbrauch in der sie umgebenden erwachsenen Gesellschaft. Wahrscheinlich sind weder empirische Messungen von der Häufigkeit von Verhaltenseinheiten, noch Nachforschungen über unterschiedliche Erziehungsmaßnahmen besonders aufschlußreich; wir werden vielmehr als Erwachsene entscheiden müssen, ob wir in einer Gesellschaft leben wollen, die ein solch hohes Maß männlicher Aggressivität toleriert.
    Dieser Überblick über den Forschungsstand berücksichtigt vor allem die Literatur der letzten drei bis vier Jahre, die in schon vorliegenden deutschsprachigen Übersichten größtenteils noch nicht berücksichtigt werden konnte
(Bilden
1980,
Degenhardt
1979,
Schenk
1979). Allein für diesen Zeitraum war eine Fülle von Material vorhanden, das nicht in allen Aspekten hier eingehen konnte. Abschließend möchte ich zwei Eindrücke aus der Gesamtlektüre mitteilen.
    Erstens: Die deutschsprachige Literatur – von den eher konservativen Biologen bis hin zu den Feministinnen – ist erheblich eher geneigt, starke und sogar angeborene Geschlechtsunterschiede anzunehmen als die englischsprachige. Bei deutschen Texten habe ich regelmäßig feststellen müssen, daß sie amerikanische Daten in Richtung auf tiefgreifende oder biologisch bedingte Geschlechtsunterschiede überinterpretierten oder Formulierungen wählten, die ein weitaus stärkeres Maß an Unterschiedlichkeit vorspiegeln, als in den Quellen mitgeteilt. Sogar Texte von Autoren, die Originalbeiträge in beiden Sprachen veröffentlicht haben, unterscheiden sich in diesem Sinne: der deutsche Text vermittelt wesentlich stärker den

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