Sozialisation: Weiblich - männlich?
Verhalten der Eltern unterstellten, auch wenn die Wege dieser Verursachung in psychoanalytischen und lerntheoretischen Theorien unterschiedlich eingeschätzt wurden. Zur Überprüfung der Theorien wurden und werden Korrelationen zwischen Elternverhalten und geschlechtstypischem Verhalten (bzw. Selbstbeschreibung) der Töchter und Söhne gesucht. Das Elternverhalten wurde teils abgefragt (was mit größeren Stichproben, aber weniger Zuverlässigkeit hinsichtlich des tatsächlichen Verhaltens verbunden ist), teils in Versuchssituationen beobachtet. Sofern Korrelationen auftreten, ist jedoch empirisch meist nicht nachweisbar, welche Seite den Stellenwert einer Ursache hätte, oder ob überhaupt dritte Faktoren beide Phänomene hervorgerufen haben.
So wird gerne eine Studie von Moss zitiert, der bei Beobachtungen von Mutter-Kind-Interaktionen (die immerhin über einen Zeitraum von jeweils 8 Stunden in der normalen häuslichen Umgebung durchgeführt wurden) feststellte, daß männliche Säuglinge häufiger quengelten und auch häufiger auf den Arm genommen werden. Die beiden Studien, die dieses Ergebnis hatten, wurden mit Stichproben von 30 bzw. 54 Kindern durchgeführt
(Moss
1974, S. 152f., 157 f.). Nun ist aber nicht festzustellen, ob die Mütter einfühlsam auf die jeweiligen Bedürfnisse der Kinder eingingen, oder ob männliche Kinder erst durch die Neigung der Mutter, sie dafür zu belohnen, zu häufigerem Quengeln erzogen wurden – oder ob vielleicht Kinderärzte und Krankenhauspersonal sowohl die Kinder unterschiedlich nach Geschlecht behandelt hatten, wie auch den Müttern unterschiedliche Verhaltensmaßregeln eingeschärft hatten, je nachdem, ob sie einen Sohn oder eine Tochter hatten. Diese wie die meisten Untersuchungen waren mit erstgeborenen Kindern durchgeführt worden (um die relative Gleichheit der Bedingungen zu sichern), d. h., es waren Mütter, die oft sehr unsicher und daher dem Rat und den Anweisungen von Fachkräften und Ärzten ausgeliefert sind. Die gefundenen Geschlechtsunterschiede wurden bei einer späteren Untersuchung mit 121 Säuglingen nicht bestätigt. Dazu bemerkt Moss, es hätten die Beobachter der späteren Studie möglicherweise Äußerungen männlicher Kinder, die bei der früheren Untersuchung als „Quengeln“ eingestuft wurden, nun eher als „Sprechverhalten“ (vocalization) bewertet. Der Geschlechtsunterschied (den es beim eindeutigen Schreien nicht gegeben hatte) lag in einem Bereich, der unterschiedlich gedeutet werden kann. Zudem vermutet Moss aufgrund einiger Mitteilungen von Müttern, daß zum Zeitpunkt der späteren Untersuchung Kinderärzte dazu übergegangen waren, eher Medikamente für unruhige quengelnde Kinder zu verschreiben (bzw. Koliken zu diagnostizieren), deren Verabreichung nun die Unruhe verringert hätte.
(Moss
1974, S. 160-161). Umgekehrt könnte man allerdings auch spekulieren, daß geschlechtsspezifische Erwartungen von Ärzten und/oder Müttern zum Zeitpunkt der früheren Untersuchung dazu verleitet hatten, tatsächliche Beschwerden (Blähungen etc.) bei Jungen eher zu ignorieren. An diesem Beispiel wird vor allem deutlich, wie wenig Schlußfolgerungen bezüglich Ursachen aus der Beobachtung von Mutter-Kind-Interaktionen gezogen werden können, denn schon bei Neugeborenen wirken neben der Hauptbezugsperson die miterziehenden Personen und Institutionen ein. Zudem ist es schwierig, den Anteil der Erwachsenen und den Anteil der Kinder an dem gegenseitigen Sozialisationsprozeß genau auszumachen. Gerade in der Familie sind subtile Wechselwirkungen häufig; individuelle, ad hoc entworfene Lösungen für naturwüchsig entstandene Probleme kennzeichnen das Erziehungsgeschehen.
Relativ gut belegt ist inzwischen die Tendenz von Erwachsenen, unterschiedliche Wahrnehmungen und unterschiedliche Erwartungen bei weiblichen und männlichen Kindern zu bilden. Das Geschlecht anderer Menschen ist für die Orientierung des alltäglichen Verhaltens grundlegend; wenn Information darüber fehlt, wird es vermutet oder unterstellt, um Interaktion überhaupt zu ermöglichen. Dies gilt offenbar sogar dann, wenn Erwachsene kurze Zeit mit einem Säugling
(Seavey
u.a. 1975) oder mit einem Kleinkind
(Frisch
1977) umgehen sollen. Es spricht einiges dafür, daß die Geschlechtszugehörigkeit unter Kindern im Vorschulalter nicht diesen Stellenwert hat, sondern sie eher situationsspezifisch interessiert. Bei Erwachsenen in unserer Kultur scheint hingegen das Geschlecht die erste und
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