Sozialisation: Weiblich - männlich?
wichtigste Information zu sein, die auch bei flüchtiger Interaktion gemerkt wird
(Unger
1979, S. 20f.). Selbst gegenüber (objektiv ununterscheidbaren) Neugeborenen werden unterschiedliche Eigenschaften wahrgenommen, je nachdem, ob sie als weiblich oder männlich identifiziert werden
(Rubin
u.a. 1974,
Segal
1981). Erwartungshaltungen beeinflussen die Deutung aller Lebensäußerungen eines Kindes, und diese Erwartungen sind durch das Geschlecht im Sinne der bekannten Stereotypen ausgerichtet.
Weniger gut belegt sind Unterschiede im tatsächlichen Erziehungsverhalten gegenüber Töchtern und Söhnen. Manche der in populären Texten hochgespielten Unterschiede scheinen nach Land, Region und sozialer Schicht unterschiedlich zu sein. So haben Brunet und Lezine in einer Untersuchung in Frankreich festgestellt, daß Mütter eine Tochter wesentlich seltener und kürzer an der Brust stillen als einen Sohn;
Belotti
(1975) und andere haben dies als Beleg für systematische Benachteiligung von Mädchen ausgewertet. Goldberg und Lewis hingegen haben in den USA berichtet, daß Mädchen bereitwilliger und länger gestillt wurden als Jungen
(Lott
1981, S. 32). Dies ließe sich wiederum als Tendenz deuten, die Tochter eher zu Anhänglichkeit und Abhängigkeit zu erziehen. Einzelne Erziehungsmaßnahmen sind keine geeignete Basis für solche weitreichende Schlußfolgerungen, und die Erklärungsmuster für ihre Wirkungsweise erweisen sich als gummiartig dehnbar.
Aufschlußreicher dürften Untersuchungen sein, die ausführlicher und über Zeit das Erziehungsverhalten im Zusammenhang betrachten. Die Längsschnittuntersuchung von Newson & Newson in England wird als eines der wichtigsten und differenziertesten Unternehmen dieser Art anerkannt; möglicherweise sind auch die sozialen Schichtverhältnisse den deutschen ähnlicher als das bei den US-Studien der Fall ist. Seit 1958 haben die Newsons die Erziehungsvorstellungen und das Erziehungsverhalten von ca. 700 Familien (gestreut nach sozialer Schicht) verfolgt. Offene, sehr ins Konkrete gehenden Interviews mit Eltern (überwiegend mit Müttern) als die Kinder jeweils 1, 4, 7, 11 und 16 Jahre alt waren, zuletzt auch Interviews mit den 16-jährigen Kindern selber, und differenzierte Analysen ergaben ein reichhaltiges Material, das in einer Serie von Büchern ausgewertet worden ist. 1978 faßten die Newsons die Ergebnisse ihrer Untersuchung hinsichtlich geschlechtsspezifischer Erziehung zusammen
(Newson
u.a. 1978).
Unterschiedliche Beschäftigungen und Spiele von Mädchen und Jungen waren mit 7 Jahren bemerkbar, mit 11 waren die Unterschiede noch ausgeprägter. In den Interviews zeigen die Mütter ein deutliches Bewußtsein der herkömmlichen Rollen und fühlen sich offensichtlich wohler, wenn die Kinder entsprechende Neigungen zeigen. Jedoch auch geschlechtsuntypische oder rollenwidrige Vorlieben (z.B. ein Sohn, der für sein Leben gerne strickt oder stickt, eine Tochter, die auf Fußball versessen ist) werden von Müttern unterstützt und gegen die kulturellen Normen verteidigt. Diese Neigungen werden als Ausdruck der spezifischen Individualität dieses Kindes und als solche als berechtigt betrachtet. In ihrer Auswertung der Interviews für die Altersstufe 7 Jahre betonen die Newsons, daß Eltern in hohem Maße pragmatisch auf das Verhalten des jeweiligen Kindes reagieren. Es gibt zwar eine Tendenz, Söhne eher als Töchter als „besonders schwierig zu erziehen“ anzusehen, vor allein in der oberen sozialen Schicht, und Söhne werden in allen Schichten häufiger als aggressiv beschrieben
(Newson/Newson
1976, S. 379, 393). Söhne werden häufiger geschlagen (S. 307) und insbesondere eher mit einem Gegenstand geschlagen oder bedroht (S. 324-25) als Töchter. Jedoch unterscheiden sich die Anlässe für Bestrafungen nicht nach Geschlecht: Frechheit, Kraftausdrücke u.ä. werden etwa gleich häufig bei Mädchen wie bei Jungen als Anlaß genannt. „Gossensprache“ wird allerdings von Mittel- und Oberschichtmädchen deutlich seltener aufgeschnappt und entsprechend seltener zum Anlaß für Strafe
(Newson/Newson
1976, S. 322, S. 366-70).
Der Erziehungsauftrag der Familie ist, so die Newsons, im Kern ambivalent. Langfristig haben die Eltern die sozialen Normen zu vermitteln, gleichzeitig und gewissermaßen im Austausch dafür schaffen sie einen Raum, in dem diese Normen ausgesetzt oder in der Schwebe gehalten werden. Entsprechend der Ambivalenz ihrer Aufgabe fordern Mütter vielfach vor
Weitere Kostenlose Bücher