Sozialisation: Weiblich - männlich?
der zeitliche Ablauf dieser Entwicklung ist weder von Kind zu Kind, noch über verschiedene Kulturen standardisierbar. Generell finden Lewis und Weinraub, daß Mädchen mit zwei Jahren den Körperkontakt zur Mutter nicht aufgegeben oder im gleichen Maß wie die Jungen eingeschränkt haben. Dies belegt allerdings nicht
eine
Eigenschaft, etwa „Abhängigkeit“, denn diese Mädchen zeigten gegenüber ihren Vätern ganz ähnliches Verhalten wie die Jungen: Wenn sie mit einem Jahr viel Nähe und Kontakt hatten, hatten sie mit zwei Jahren weniger Nähe und mehr Blickkontakt. Mir scheint die Interpretation von
Scheu
(1977, S. 67) verfehlt, daß die Mütter den entwicklungspsychologischen Erfordernissen der Söhne altersgemäß entsprächen, während sie im Umgang mit Mädchen genau entgegen den Entwicklungserfordernissen handelten. Das Tabu körperlicher Kontakte – in der Kultur der USA weit stärker als in Deutschland 6 – und die Ideologie, daß Kinder, vor allem Söhne, möglichst schnell unabhängig werden sollten, führen eher zu einer Abweisung von entwicklungspsychologisch benötigter Nähe. Zwei Jahre ist ein recht früher Zeitpunkt, um die Überwindung des Wunsches nach Körpernähe zu verlangen. Die Daten von
Blurton-Jones
(1979) weisen eher dahin, daß in dieser Hinsicht überforderte Kinder auffallend aggressiv werden. Die Norm, Jungen möglichst früh die Suche nach Nähe und Körperkontakt abzugewöhnen, führt vermutlich bei einem Teil der Jungen und bei rigider Anwendung zu der Häufung männlicher Aggressionshandlungen, die aus der Kinderbeobachtung mitgeteilt wird.
Diese Norm wird für Mädchen nicht geltend gemacht, ihre Nähe zur Mutter nicht sanktioniert. Das kann bedeuten, daß das Mädchen mehr Freiheit hat, selbst den Zeitpunkt der Ablösung zu finden, und es kann umgekehrt bedeuten, daß die Tochter stärker für das Bedürfnis der Mutter nach Körperkontakt funktionalisiert wird. Die Erfahrung spricht dafür, daß beides vorkommt.
Die Ergebnisse von Lewis und Weinraub sind nicht in dem Sinne verallgemeinerbar, daß wir sagen könnten: Mädchen werden so, Jungen so erzogen. Sie selbst deuten die beobachteten Vorgänge als kognitive Sozialisation
(Lewis/Weinraub
1979); das heißt, daß es sich um Deutungsangebote an das Kind für dessen jeweilige Reaktionen und Erfahrungen handelt. Zu folgern wäre auch, daß der Umgang mit dem Bedürfnis nach Nähe durch geschlechtsspezifische Normen beeinflußt wird. Wenn diese Normen stärker durchschlagen als die Signale des jeweiligen Kindes für seine konkreten Bedürfnisse, sind Schäden zu befürchten, die bei Jungen am ehesten in Richtung auf gesteigerte Aggressivität, bei Mädchen in Richtung auf gesteigerte Abhängigkeit ausschlagen. Es ist aber nicht zu belegen und wahrscheinlich nicht zutreffend, daß Mädchen und Jungen mehrheitlich in diesem Sinne zugerichtet werden; d. h. diese Hinweise können kaum erklären, warum die übergroße Mehrheit Geschlechterrollen annimmt.
Die bis hier dargestellten Forschungsergebnisse über unterschiedliches Erziehungsverhalten gegenüber Mädchen und Jungen innerhalb der Familie lassen sich im wesentlichen in drei Aussagen zusammenfassen, die als empirisch belegt gelten können:
Die befragten oder beobachteten Väter neigten vielfach dazu, auf Anpassung an die Geschlechterstereotypen zu drängen; bei Müttern ist dies kaum nachweisbar. Wir wissen allerdings nicht, ob bei stärker verantwortlicher Beteiligung an der Kindererziehung Väter sich dann eher wie Mütter verhalten.
Mädchen werden aus einer besonderen (gegenüber dem kleineren Kind meist nicht ausgesprochenen) Angst um ihre körperliche und sexuelle Unversehrtheit weit stärker unter Aufsicht von Erwachsenen gehalten. Dies scheint zur Folge zu haben, daß Mädchen intensiver den Normen ausgesetzt sind, weniger Chancen haben, Gleichaltrige als Gefährtinnen für eigenständige Wege zu erleben, und eine diffuse Gefährlichkeit der „Welt draußen“ vermittelt bekommen, die ihre Entdeckungslust hemmt.
Hohe Aggressivität von Kindern scheint in einem Zusammenhang (möglicherweise eher Teufelskreis als Verursachungskette) mit spezifischen Interaktionsformen mit der Mutter zu stehen. Diese Interaktionsformen – Strafe, Schläge und nur zögerndes Angebot von Körpernähe/kontakt als Trost – sind auch Jungen gegenüber häufiger als Mädchen. Denkbar wäre ein Zusammenhang mit dem 1. Ergebnis, worin Väter aus Sorge um die Männlichkeit ihres Sohnes
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