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Sozialisation: Weiblich - männlich?

Titel: Sozialisation: Weiblich - männlich? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Hagemann-White
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Schließlich gibt es Unterschiede in der Häufigkeit, mit der Schüler/innen aufgerufen werden, ohne sich gemeldet zu haben. Diese treten aber kaum im Fach Deutsch auf, sondern in Mathematik und noch stärker Sachkunde; und die Neigung, die Jungen eher anzusprechen, ist ausgeprägter bei Lehrerinnen als bei Lehrern.
Frasch/Wagner
fassen zusammen:
    „Einstellung und selektive Wahrnehmung des Lehrers drücken sich darin aus, daß der Unterrichtsbeitrag von Jungen – unbemerkt – als wertvoller eingestuft und Jungen für förderungswürdiger erachtet werden. Lehrer spornen deshalb Jungen mehr an, was zu häufigerem Lob und Tadel und Disziplintadel führen kann, wenn die schulische Mitarbeit der Jungen durch deren aggressives Verhalten gefährdet ist. Möglichst gut Schulleistungen, vor allem bei Jungen, werden für so wichtig erachtet, daß Lehrer sich auch von sich aus mehr den Jungen zuwenden. Mädchen müssen sich die Zuwendung des Lehrers eher selbst holen. Bei männlichen Lehrern ist diese Tendenz im übrigen noch stärker ausgeprägt als bei weiblichen Lehrern; auf Jungen achtet man einfach mehr.“
(FraschlWagner
1982, S. 275)
    Die unterschwellige Botschaft des beschriebenen Lehrerverhaltens ist es sicherlich, daß Jungen wichtiger sind. Unzureichend wäre dies aber als alleinige Erklärung, denn Schülerinnen werden durchaus gemocht, für ihre Leistungen gelobt, und sie haben auch selbst den Eindruck, daß ihre Lehrer sie für befähigt halten und sie mögen
(Dweck/Goetz
1978, S. 164). Der Ansatz von
Clarricoates
(1978) könnte weiterführen. Ihre in England durchgeführte Untersuchung umfaßte Beobachtungen im Klassenzimmer und Interviews mit Lehrerinnen.
    Clarricoates betont, daß die Aufrechterhaltung von Disziplin – im Sinne der Mindestanforderung, die Aufmerksamkeit der Klasse halten und das Geschehen im Klassenzimmer einigermaßen steuern zu können – grundlegend für jeden Unterricht ist. Dies gilt nicht nur im selbstverständlichen Sinne, überhaupt unterrichten zu können; vielmehr ist das Ausmaß der Kontrolle über die Klasse das deutlichste Gradmesser für die berufliche Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern, und dies wird im Kollegium, von Vorgesetzten und von den Lehrer/innen selbst so wahrgenommen und gehandhabt. Berufsanfänger leiden oft Höllenängste vor der Vorstellung, das Geschehen im Klassenzimmer nicht mehr lenken zu können. Dies ist so weit auch Alltagswissen in der Pädagogik; Clarricoates stellte jedoch in ihren Interviews fest, daß die Lehrerinnen sich in der Überzeugung einig waren, daß Disziplinstörungen vor allem von männlichen Schülern zu erwarten seien. In der Tat hat die Schulforschung regelmäßig festgestellt, daß Jungen weit häufiger wegen Disziplinstörungen zurechtgewiesen werden als Mädchen.
    Dabei nehmen zwei Erwartungen Einfluß auf das Lehrerverhalten. Zum einen wird vermutet, daß Jungen einfach „von Hause aus“ (die vermuteten Gründe reichen vom Biologischen bis zur sozialen Umwelt) aggressiver, unruhiger, weniger bereit, sich unterzuordnen, frecher und trotziger sein werden als Mädchen. Die Gefahr, daß der Unterricht ganz zusammenbrechen könnte, geht von ihnen aus. Zum anderen erwartet man mehr Lernschwierigkeiten bei den Jungen, d. h. man glaubt, mehr tun zu müssen, damit auch sie die Kulturtechniken in der vorgesehenen Zeit meistern. Pädagogisch scheint es daher erforderlich, den Stoff besonders für die Jungen möglichst interessant zu machen. in der Tat ist im Klassenzimmer zu beobachten, daß Lehrer/innen nicht nur mehr negative Zurechtweisungen, sondern auch mehr Erklärung, Information und Zuwendung den Jungen zukommen lassen
(Clarricoates
1978). Auf der Grundlage ähnlicher Einschätzungen habe ich 1977 die These vertreten, daß die gesellschaftliche Funktion des überwiegenden Einsatzes von Frauen in der Vor- und Grundschulpädagogik nicht in der besonderen Fürsorglichkeit von Frauen liegt, sondern in der Wichtigkeit des Widerstandes gegen schulische Disziplin für die Herausbildung gesellschaftlich erwünschter Männlichkeit. Egoismus, Aggressivität und Geringschätzung für weibliche Anforderungen an Sozialverhalten werden gleichzeitig provoziert (als erwartbar hingenommen) und mißbilligt, indem Lehrerinnen ihren Unterricht darauf einstellen, daß Jungen einfach „schwieriger“ sind als Mädchen
(Hagemann-White
1978). Clarricoates stellt sogar fest, daß die Stoffauswahl entsprechend den von Kindern mitgebrachten Vorurteilen

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