Sozialisation: Weiblich - männlich?
werden dann schnell als Beweis der eigenen Unfähigkeit gedeutet. Günstiger ist offensichtlich das Verhalten, das gegenüber Jungen häufiger ist: Lob für gute Leistung, aber selten Tadel für schlechte Leistung, sondern nur für Disziplinstörungen.
Im Bewußtsein der Lehrer und Lehrerinnen und der Eltern steht im Vordergrund die Schwierigkeit, die Jungen bei dem Einleben in der Schule haben. Weniger offen zutage liegt alles, was den Mädchen entgeht, während sie scheinbar so gut zurechtkommen. Ein Umdenken in dieser Hinsicht würde notgedrungen die Wertigkeit der Schulfächer anders setzen müssen, indem Fächer, in denen räumliche Orientierung, Grobmotorik und Unabhängigkeit gefördert werden, aufgewertet oder sogar neu geschaffen würden. Dies würde übrigens den Bestrebungen entgegenkommen, die auf Verringerung des Leistungsstreß und Eingliederung statt Absonderung zielen. Es verlangt aber auch in der Tendenz eine sehr grundlegende Schulreform, zumal wenn möglich werden soll, Mädchen zu Undiszipliniertheit, Eigenständigkeit und Widerspenstigkeit zu ermutigen.
Schließlich soll an die Ergebnisse der Untersuchung von
Sherman
(1978)
erinnert werden, daß eine Angleichung der Leistungen und damit der Berufschancen von Mädchen und Jungen offensichtlich partiell erreichbar ist, wenn die Schule es als ihre Aufgabe akzeptiert, gleiche Lernangebote und Lernziele für beide Geschlechter zu setzen. Dadurch werden zumindest intellektuelle Fähigkeiten und Geschicklichkeiten gefördert und Bereiche, die „geschlechtsuntypisch“ sind, zur Erprobung immer wieder angeboten. Eine grundlegende Veränderung der Schule als Institution steht wohl kaum bevor; als öffentliche Einrichtung hat sie aber zumindest die Pflicht, Chancen offenzuhalten, Mädchen ebenso wie Jungen an das heranzuführen, was sie nicht schon kennen und dessen Sinn sie nicht von vornherein schon einsehen.
III. Ansätze zu einer Theorie der Entwicklung des weiblichen Sozialcharakters
1. Das Problem einer zureichenden Theorie der Weiblichkeit
Die empirische Forschung, die bis jetzt referiert wurde, hat einige prinzipielle Grenzen. Sie ist individualistisch: soziale Zusammenhänge sollen aus der Summierung individueller Verhaltensprägungen, diese wiederum aus den Zufällen individueller Lebensgeschichte erklärt werden. In dem lobenswerten Bestreben, Vorurteile und Ideologien der Unterdrückung mit Fakten zu konfrontieren, reduziert diese Forschung soziales Handeln, soziale Beziehungen und die vielschichtige Subjektivität von Personen auf meßbare Merkmale, die abgegrenzt und gezählt werden können. Für die aufklärerische Leistung, die sie dabei erbringt, zahlt diese Forschung damit, daß das Erkenntnisinteresse der Betroffenen unbefriedigt bleibt, und mit der Ideologie der Unterdrückung zerrinnt auch die Realität der Unterdrückten zwischen ihren wissenschaftlichen Fingern.
Die unterschiedliche Entwicklung von Mädchen und Jungen und die Unterschiede im Umgang von erwachsenen Frauen und Männern mit ihnen haben ihre Realität in einem sozialen Kontext, in dem die Geschlechterpolarität unabhängig von den Handlungen der Individuen und zugleich als ihre Realität feststeht. Die Unterschiede sind in ihren wichtigsten Aspekten nicht quantifizierbar, auch nicht durch eine verfeinerte Empirie. Eine Mutter lächelt ihren Sohn weder mehr noch weniger an als ihre Tochter, sondern anders: Ihr Lächeln trägt einen anderen Sinn und andere Gefühle. Der Sinn und die Gefühle erwachsen aus der gesellschaftlichen Bedeutung, die es hat, ein zukünftiger Mann oder eine zukünftige Frau zu sein. Zugleich entsteht in der Lebensgeschichte der Mutter eine bestimmte Erkenntnis, ein bestimmtes begrenztes Vermögen, mit dieser gesellschaftlichen Realität umzugehen, und ein bestimmter Wille, sich dazu zu verhalten. Die gesellschaftliche Bewertung von Frauen und Männern wird also sehr unterschiedlich gefärbt von verschiedenen Müttern weitergetragen und ist dennoch der gemeinsame Kontext, worin sie ein Mädchen anders erleben als einen Jungen.
Eine qualitative Erfassung dieser Unterschiedlichkeit kann am Beispiel der Einstellung von Frauen zu dem Geschlecht des zukünftigen Kindes verdeutlichen, wie der soziale Kontext der Geschlechterpolarität in sehr unterschiedlichen Haltungen dazu durchscheint. Judith Arcana hat für ihre Forschung über Mütter und Töchter mit 120 Frauen gesprochen, davon ca. 100, die ein Kind hatten oder demnächst
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