Sozialisation: Weiblich - männlich?
177-78). Es wird gelernt bzw. angeeignet, oder es kommt überhaupt kein richtiger Mensch zustande. Der Reiz beider Ansätze für die Frauenforschung lag darin, daß sie die Übermacht der gesamten Gesellschaftsverhältnisse (deren Analyse allerdings jeweils sehr verschieden ist!) hervorkehren, so daß das Verhalten der Individuen als Folge dieser Verhältnisse verständlich wird; so schien nur nötig, die Gesellschaftsanalyse von der Sicht der Frauen aus umzugestalten. Was bei beiden Ansätzen allerdings fehlt ist das „Wie“ des Lernens, der Aneignung; es wird auf mechanistische Bilder zurückgegriffen (der Spiegel, die Verstärkung durch mehr Belohnung oder mehr Strafe). Subjektivität hat für diese Theorien keine Eigenständigkeit: Aus ihr schallt es heraus, wie hineingerufen wurde. Die Abkürzung an der Subjektivität vorbei mag sogar die Popularität solcher Ansätze erklären, weil schnelle Schlußfolgerungen möglich sind.
Für solche Theorie, die von den Verhältnissen schnell zu dem Verhalten der Individuen gelangen will, ist der Rückgriff auf positivistische Empirie naheliegend. Er führt offenbar, trotz der theoretischen Ausgangsannahmen, immer neu zum Biologismus. Maccoby/Jacklin haben diesen Weg für aggressives Verhalten gewiesen, als sie einerseits statistische Unterschiede im Verhalten, andererseits keine entsprechenden statistischen Unterschiede in den Erziehungsmaßnahmen fanden. In progressiver Vereinfachung ist deren Aussage bei
Schenk
(1979) und dann bei Brehmer (1982) zu finden. „Wer heute einen Teil der Verhaltens- und Charakterunterschiede (einschließlich des Politikinteresses!) für 'angeboren' erklärt, muß durchaus kein männlicher Chauvinist mehr sein“ verkündet v. Borries
(Brehmer
1982, S. 122). In der Tat; aber wissenschaftlich zureichend sind diese Thesen deshalb nicht.
Eine vielversprechende Strategie, dem Biologismus entgegenzutreten, wurde von
Scheu
(1977) in exemplarischer Deutlichkeit vorgeführt: die Logik des Rückgriffs auf Erziehung in frühen Jahren kann als systematischer Rekurs stringenter gemacht und bis zur Geburt fortgesetzt werden. In einer Gesellschaft, die nach Geschlecht polarisiert ist, ist die These von Scheu einleuchtend, daß jede erscheinende Unterschiedlichkeit schon eine Geschichte hat. Die Grenze dieser theoretischen Strategie wird aber in der Umsetzung sichtbar, indem „die Logik des Gegners“ beibehalten wird. Um mit Belegen aus
der positivistischen Empirie die frühe Beeinflussung zu verdeutlichen, gerät Scheu in den Zwang, eine zu große Einheitlichkeit des Verhaltens von Müttern und Vätern, sowie eine gradlinige Wirksamkeit der Erziehungsmaßnahmen zu unterstellen. Zwar betont Scheu (anders als z.B.
Belotti
1975) das Widerstandspotential von Mädchen, das sie gewissermaßen existentialistisch ableitet: Es ist schlechthin menschlich, sich mit Unterdrückung und Beschränkung nicht abfinden zu wollen. Doch was als Widerlegung von biologistisch behaupteten Unterschieden begann, gerät in den Sog, eine eigene Erklärung für den weiblichen Sozialcharakter zu liefern, so daß am Ende der Eindruck siegt: Mädchen sind gefühlsbetonter, an Personen interessierter, abhängiger, braver – aber eben nicht so geboren, sondern dazu gemacht worden. Um dein Argument gesellschaftlicher Verursachung Gewicht zu verleihen, wird dem Gegner am Ende viel mehr zugestanden, als er auf empirisch-positivistischer Basis hätte beanspruchen können.
Eine zureichende Theorie des weiblichen Sozialcharakters kommt nicht an der Subjektivität vorbei. Im folgenden werden theoretische Überlegungen aufgenommen, die nachzuzeichnen versuchen, wie in der Praxis des Alltags und in der subjektiven Verarbeitung dieser Praxis der Schein der Natürlichkeit erzeugt wird, der den Sozialcharakter überzieht. Zur Diskussion stehen nicht mehr die Zufälle individueller Lebensgeschichte, worin einige von uns mehr, andere weniger traditionell konditioniert wurden, sondern die herrschenden sozialpsychologischen Verhältnisse, in denen wir uns so oder so zurechtfinden. Wenn marxistische Sozialisationstheoretiker z. T. meinen, es gäbe in der Gesellschaft zwei separate, aber miteinander vermittelte Prozesse der Reproduktion – den Reproduktionsprozeß des Kapitals und den Reproduktionsprozeß der Individuen
(Ottomeyer
1980) – so weisen die hier aufgenommenen Ansätze auf einen Prozeß der
kulturellen
oder symbolischen
Reproduktion,
der keineswegs individuell zu nennen ist. Lassen
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