Sozialisation: Weiblich - männlich?
Geschlechtsrollen; stattdessen wird davon ausgegangen, daß Kinder eine eigene Motivation haben, denen ähnlich zu werden, die ihresgleichen sind. So einleuchtend dies auch ist, es ist zugleich sehr viel Verwirrung gestiftet worden, weil die Vertreter der Theorie das, was Kinder erst lernen müssen, selbst nicht bewußt erkennen, sondern als diffuse Natur voraussetzen. Der Erwerb der Geschlechteridentität wird in naiver Parallelität mit der allgemeinen Naturerkenntnis als das Begreifen eines Prinzips physikalischer Konstanz betrachtet
(Kohlberg
1974). In Anlehnung an Piaget wird dann gefolgert, daß solche Prinzipien erst im Alter von ca. 6 Jahren kognitiv erfaßt werden können. Wir hingegen können jetzt anhand der differenzierten Analysen des kulturellen Systems der Zweigeschlechtlichkeit sehen, daß die physikalische Konstanz lediglich die Voraussetzung für die Aneignung der Alltagstheorie der Geschlechter ist. Die Chiffrierung der Geschlechtszugehörigkeiten in Begriffen der Naturgesetzlichkeit – Biologie und ihre Konstanz – läßt sowohl die tatsächliche Basis der Geschlechtszuweisung wie auch kulturelle und politische Hierarchien endgültig aus dem Bewußtsein absinken. Geschlecht als konstante Natur zu begreifen, besiegelt die Verdrängung der Anstrengungen, es zu erkennen, der kindlichen Sexualforschung. Das wird deutlich wenn man bedenkt, daß die schlichte Erkenntnis: wer einen Penis hat, ist männlich, durchaus dem kognitiven Stand eines Dreijährigen zugänglich wäre. Jedoch ergab selbst eine Untersuchung mit schwedischen Kindern (im Alter von 3 bis 10), daß weniger als 20 %, d. h. vor allem die älteren Kinder, eine klare Einsicht in den Zusammenhang zwischen Genitalien und Geschlechtszugehörigkeit äußerten
(McConaghy
1979). Denn diese Einsicht muß auf der
Basis
kultureller Zeichen vielfältiger Art entstehen: Der Penis ist nicht nur er selbst, sondern zugleich etwas, dessen Vorhandensein aufgrund dieser Zeichen vorausgesetzt werden darf, also Symbol, Phallus. Die Gewißheit, daß man trotz veränderter Kleidung und Verhalten sein Geschlecht nicht ändern kann, ist nicht unmittelbar am Körper verankert, sondern vermittelt über die Kenntnis der Kleidung und des Verhaltens, die tatsächlich die Geschlechtszuweisung auslösen.
Das brennende Interesse der Kinder an der Zweigeschlechtlichkeit wird nicht erst durch die Annahme der Alltagstheorie ausgelöst, eher dadurch zu einem gewissen vorläufigen Abschluß gebracht. Denn das symbolische System umfaßt viel mehr. Auch für unsere Gesellschaft gilt, was
Ortner/ Whitehead
(1982) allgemein bemerken, daß
Statushierarchien
jeder Art
erotisiert
werden; d. h. auch andere Beziehungen der Ungleichheit sind mit der Werthierarchie der Geschlechtlichkeit verkodet. Die unbewußte Erotisierung der Eltern für das Kind ist nur ein – wenngleich frühkindlich sehr zentrales Beispiel hierfür (was die Theoretiker des „Anti-Ödipus“ ins Bewußtsein zu bringen versuchen). Umgekehrt entsprechen den subtilen Prozessen der Geschlechtszuweisung, von denen Kessler und McKenna sprechen, natürlich ebenso subtile Prozesse der Geschlechtsdarstellung: man
ist
nicht nur Mädchen oder Junge, sondern muß als solches erkannt werden können. Gerade Kleinkinder stoßen sich oft schmerzlich daran, daß sie verkannt werden können. Schließlich ist die Zweigeschlechtlichkeit gerade in der Komplexität ihrer symbolischen Darstellung die
Grammatik der Begierden.
Eine „reine“ Autoerotik existiert wohl allenfalls als Symptom des Hospitalismus; Hoffnungen auf Lust, Erregung, Zärtlichkeit, ausgelassene Freude, Abenteuer, Geborgenheit müssen in der Grammatik der Geschlechtlichkeit bewußtseinsfähig werden, um überhaupt konkret zu sein. Jeder einzelne Strang dieses Komplexes würde ausreichen, um zu verstehen, daß Mädchen und Jungen den für ihr Geschlecht „angemessenen“ Sozialcharakter aufmerksam aus ihrer gesamten sozialen und kulturellen Umwelt herausheben und notfalls auch im Gegensatz zu dem „Vorbild“ der eigenen Eltern sich aneignen.
So gesehen erscheinen die Geschlechterstereotypen etwa während der ersten acht Lebensjahre harmlos, vergleichbar vielleicht mit den Handgreiflichkeiten von Kleinkindern: andere, differenziertere Formen der Auseinandersetzung sind ihnen noch nicht zugänglich, aber mit der Zeit verschwände das schon von allein.
Die
Entwicklung von Mädchen in die Schulzeit hinein scheint dem zu entsprechen. Man wird z. B. oft erleben,
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