Spiel der Schatten (German Edition)
ich fühle?«
»So ungefähr.«
»Dann fühl mal«, forderte sie ihn auf. Dabei führte sie die Pastete an ihren Mund und schloss die Augen, um sich mit allen Sinnen auf den Geschmack zu konzentrieren.
Dann biss sie hinein.
Fast kam es ihr vor, als würde sie zum allerersten Mal Apfelkuchen essen. Die Süße des Teigs, die Säure der Äpfel, den Duft der Rosinen und die leichte Schärfe des Zimts – all das nahm sie in diesem Augenblick bewusster wahr als je zuvor.
Und mit ihr auch Milo.
»Nun?«, fragte sie, während sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, um auch noch die letzten Krümel mitzunehmen. »Wie ist das gewesen?«
»Nicht … nicht schlecht«, gab der Junge zu.
Cyn lächelte. »Das ist ein Anfang.«
»Versprich dir nicht zu viel davon. Du bist weit davon entfernt, mich von der Welt der Menschen zu überzeugen. Da hilft auch ein Stück Kuchen nicht.«
»Kuchen vielleicht nicht, aber …« Cyn überlegte abermals. Dabei betrachtete sie den Shilling auf ihrer Handfläche und fällte eine Entscheidung. »Eins gibt es noch, das ich dir zeigen möchte«, erklärte sie, hob den Puck kurzerhand auf und trug ihn davon.
Und wieder folgte ihnen ein dunkler Schatten.
19
SPIEL IM LICHT
Der Shilling, den Cyn von dem Straßenhändler erhalten hatte, machte es möglich.
Am Bahnhof an der London Bridge kaufte sie ein Ticket und stieg in den Zug nach Sydenham, einem der südlichen Vororte der Stadt, der für seinen wunderbaren, mit zwei künstlichen Seen ausgestatteten Park bekannt war. Bei schönem Wetter fuhren viele – vor allem wohlhabende – Londoner dorthin, um sich zu erholen.
Natürlich fragte Cyn sich, ob das alles überhaupt noch einen Sinn hatte, und ihr kam der Gedanke, dass es womöglich besser gewesen wäre, den Shilling, zu dem sie so unverhofft gekommen war, zu einem Arzt zu tragen, damit sich dieser um ihren am Fieber erkrankten Vater kümmerte. Aber schließlich war es kein gewöhnliches Fieber, das vom alten Horace Besitz ergriffen hatte, und vermutlich half sie ihm auf diese Weise am besten – auch wenn das alles so verrückt war, dass Cyn immer wieder an ihrem Verstand zweifelte. Zumal wenn sich die Stimme Milos in ihrem Kopf zu Wort meldete.
»Sind wir bald da? Wie weit ist es denn noch?«
Angesichts der anderen Fahrgäste, die im Waggon der dritten Klasse reisten, gab Cyn keine Antwort, schließlich wollte sie nicht für verrückt gehalten und hinausgeworfen werden. Stattdessen begnügte sie sich damit, auf der kargen Holzbank zu sitzen und durch die rußgeschwärzten Fenster zu starren, an denen zunächst Fabriken und Lagerhallen und später dann einfache kleine Wohnhäuser vorbeizogen. Schließlich tauchten die ersten Bäume auf, deren herbstlich verfärbtes Laub im Sonnenlicht leuchtete, und endlich erreichte der Zug Sydenham.
Zu Dutzenden verließen die Leute den Zug und strömten über die schmale Straße dem Eingang des Parks entgegen. Doch die eigentliche Attraktion war nicht der Park selbst.
»Was ist das?«, fragte Milo ungeduldig, als er zwischen den halb entlaubten Bäumen ein geradezu gigantisch anmutendes Gebäude auftauchen sah, das an die sechshundert Yards lang und an der Stelle, wo sich eine bogenförmige Kuppel in den fahlblauen Himmel wölbte, beinahe vierzig Yards hoch war. »Du hast mich doch nicht etwa hergeschleppt, nur um mir noch ein zu groß geratenes Bauwerk zu zeigen?«
»Keine Sorge«, wehrte Cyn ab, während sie weiter darauf zugingen. »Diesmal nicht. Diese Halle wurde vor fast vierzig Jahren für die Große Ausstellung errichtet, die in London stattgefunden hat. Vierzehntausend Erfinder, Ingenieure und Künstler aus der ganzen Welt stellten ihre Errungenschaften in diesem Gebäude aus, das …«
»… keinen Schatten wirft«, stellte Milo mit unverhohlenem Staunen fest. »Wie ist das möglich? Das Licht der Sonne scheint geradewegs durch das Gebäude hindurch!«
Cyn nickte. »Deswegen nennen wir diese Halle den ›Kristallpalast‹. Von der eisernen Konstruktion abgesehen, besteht es ganz und gar aus Glas.«
Ob Milo beeindruckt war, konnte Cyn nicht beurteilen, in jedem Fall sagte er kein Wort mehr, bis sie den Eingang erreichten. Riesig groß und im Tageslicht glitzernd erhob sich der Kristallpalast vor ihnen – seine wahren Wunder jedoch enthüllte er erst, nachdem Cyn das Eintrittsgeld entrichtet hatte und sie sich im Inneren befanden.
Richtige Bäume wuchsen hier und rankten sich zur hohen Decke, dazu Büsche und Farne, die sich
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