Sportreporter
Hand, bewundert es und gibt es dann an mich weiter. »Ich setz mich am besten in mein Auto und fahr ein bißchen herum. Das beruhigt.«
»Ich laß die Tür offen.«
»Okay«, sagt Walter mit einem unverfrorenen Lachen. »Frank, laß mich dir einen Zweitschlüssel für meine Wohnung geben. Wer weiß, vielleicht willst du irgendwann mal eine Zeitlang verschwinden. Meine Wohnung steht dir offen.«
»Wirst du denn nicht dort sein, Walter?«
»Doch, sicher, aber das kann nicht schaden. Du sollst nur wissen, daß du, wenn dir danach ist, jederzeit von der Bildfläche verschwinden kannst.« Walter gibt mir den Schlüssel. Ich habe keine Ahnung, wie Walter auf die Idee kommt, ich könnte mal das Bedürfnis haben unterzutauchen.
»Das ist nett von dir.« Ich stecke den Schlüssel in die Tasche und gebe Walter mit einem freundlichen Lächeln zu verstehen, daß er jetzt gehen soll.
»Frank«, sagt er und faßt mich – so unverhofft, daß ich keine Chance habe, mich zu ducken oder wegzulaufen – unters Kinn und küßt mich auf die Backe! Und ich bin wie gelähmt. Aber nicht lange. Ich stoße ihn zurück und brülle angewidert: »Laß das, Walter, ich will von dir keinen Kuß!«
Walter wird feuerrot und scheint verwirrt. »Sicher, klar«, sagt er. Ich weiß, ich habe Walters Absicht nicht begriffen, aber was ich selbst will, ist mir um so klarer, weiß Gott. Ich würde lieber ein Kamel küssen, als mir von Walter noch einmal einen Kuß gefallen zu lassen. Bei mir wird er auf Granit beißen, auch wenn er sich hier noch so sehr zu Hause fühlt.
Walter blinzelt hinter seiner Schildpattbrille. »Die Dinge gleiten uns stufenweise aus der Hand, was, Frank?«
»Geh nach Hause, Walter.« Ich bin endgültig sauer.
»Vielleicht kann ich das jetzt, Frank, und das verdanke ich dir.« Mit seinem trübseligen Kriegsveteranenlächeln macht Walter kehrt und ist draußen.
Einen Augenblick später höre ich seinen Wagen starten. Vom Fenster aus sehe ich das Scheinwerferlicht auf der Straße, ehe der Wagen selbst – ein MG – auftaucht und traurig röhrend davonfährt. Walter hupt zweimal kurz und verschwindet um die nächste Ecke. Wenn er zu Hause ist, ruft er bestimmt an, um Meldung zu machen wie ein Schuljunge. Und während ich es mir – wie in den alten Tagen, als X mich verlassen hat – in den Kleidern auf der Couch bequem mache, ziehe ich, ehe ich den Gokey-Katalog zur Hand nehme, den Stecker meines Telefons heraus – ein kleines, schweigendes Zugeständnis an die Art und Weise, wie das gelebte Leben funktioniert. Nicht anrufen, besagt meine schweigende Botschaft, ich werde schlafen. Mich angenehmen Träumen hingeben. Nicht anrufen. Die Freundschaft ist eine Lebenslüge. Nicht anrufen.
In den ersten sechs Monaten nach Ralphs Tod, als ich in den tiefsten Tiefen meiner schlimmsten Verträumtheit steckte, bestellte ich nacheinander so viele Kataloge, wie ich nur konnte. Es müssen mindestens vierzig gewesen sein, die jedes Vierteljahr ins Haus kamen. Am Ende mußte ich eine Kiste voll rauswerfen, um für die anderen Platz zu schaffen. X hatte nichts dagegen, ja, sie hatte schließlich sogar das gleiche Interesse wie ich, so daß wir nicht wenige Kataloge nach ihren Vorstellungen kommen ließen. In dieser Zeit – es war im Sommer – verbrachten wir mindestens einen Abend in der Woche auf der Couch in der Glasveranda oder in der Frühstücksnische und blätterten in den farbenfrohen Seiten, markierten die Dinge, die wir wollten, mit Leuchtfarben, machten Eselsohren in die Seiten, schrieben unsere Kreditkartennummern in Bestellformulare (die wir in der Mehrzahl nie wegschickten) und notierten für den Fall, daß wir anrufen wollten, wichtige Nummern für gebührenfreie Gespräche.
Ich hatte einen Tierstimmenkatalog, der die Tonaufnahme von einem sterbenden Jungkaninchen anbot. Hundehalsbandkataloge. Kataloge für Koffer und Taschen aus Zeltstoff, die afrikanischen Bedingungen standhielten. Kataloge für Expeditionen in fremde Länder mit alleinstehenden Frauen. Kataloge für alle Arten von Oberbekleidung für jede denkbare Gelegenheit, in jedem Klima. Ich hatte Kataloge für seltene Bücher, Schallplattenkataloge, Kataloge für exotische Werkzeuge, italienische Kataloge für dekorativen Rasenschmuck, Blumensamenkataloge, Schußwaffenkataloge, Kataloge für Sex-Utensilien, Kataloge für Hängematten, Wetterfahnen, Grillzubehör, exotische Tiere, Tortenheber, Schneckenfallen. Ich hatte sämtliche Kataloge, die überhaupt zu
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