St. Leger 01 - Der Fluch Der Feuerfrau
Anatole hatte ja auch sonst einiges von einem alten Kriegerfursten an sich. Sein Haar war zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten. Dadurch traten seine harten und kantigen Gesichtszüge nebst der Narbe an der Schläfe noch deutlicher zum Vorschein. Man konnte ihn gewiss nicht gut aussehend nennen, musste ihm aber zugestehen, dass von seinen Zügen etwas ausging. St. Leger konnte sich durchaus in die Träume einer Lady schleichen ... Oder war er letzte Nacht tatsächlich in ihrem Zimmer gewesen?
Wie sonst ließen sich die Kerze und das aufgeknüpfte Mieder erklären? Madeline glaubte nicht an Geister oder Gespenster - aber wie stand es mit unruhigen Ehemännern? Hatte Anatole sich Zutritt zu ihrer Kammer verschafft und ... nein, undenkbar. Der Burgherr hatte wenig Interesse an ihrem Wohlbefinden gezeigt, und außerdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass er mit seinen groben Fingern in der Lage wäre, ihre Korsettbänder zu öffnen, ohne sie dabei zu wecken. Wenn Anatole überhaupt in ihren Raum eingedrungen war - einen Grund dafür konnte Madeline allerdings nicht finden -, dann hätte er nach Barbarenart die Tür eingetreten und - Die junge Frau rief sich zur Ordnung. Wenn man sich nur wenige Fuß vom Altar entfernt in einer Kirche befand, sollte man solche Dinge nicht einmal denken. Wie sie es auch drehte und wendete, es gab nur eine logische Erklärung für die Rätsel der letzten Nacht: Madeline selbst hatte die Kerze auf den Tisch gestellt und sie dann vergessen. Und an dem Korsett hatte sie sich ja selbst zu schaffen gemacht. Auch wenn sie nach einer halben Stunde geglaubt hatte, die Knoten am Rücken wohl nie allein öffnen zu können, musste sie diese doch so weit gelöst haben, dass das Mieder irgendwann im Lauf der Nacht ganz aufgegangen war.
Die weihevolle Stille in diesem Gotteshaus drang in ihre Gedanken, und die junge Frau entdeckte, dass Fitzleger wie auch Anatole sie anstarrten. Hatte sie etwa laut gedacht? Aber nein, der Priester schien ihr gerade eine Frage gestellt zu haben und erwartete nun eine Antwort.
Mama hatte Madeline einige Male vorgehalten, selbst auf Bällen oder Gesellschaften mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. Die junge Frau hätte sich aber nie vorgestellt, dass ihr das auf ihrer eigenen Hochzeit widerfahren könnte. Ihre Wangen brannten, als Mr. Fitzleger die Frage wiederholte:
»Willst du diesen Mann zu deinem angetrauten Gemahl nehmen?«
Ja, wollte sie das?
Die junge Frau schluckte und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Unter dem Kleid spürte sie die Miniatur, die ihr wie ein zuverlässiger Freund und der wunderbarste Liebhaber war.
»Naja, ich ...« Sie konnte nicht mehr weitersprechen. St. Leger erbleichte, und der Reverend trat unruhig von einen Fuß auf den anderen. Hatte Anatole vielleicht deswegen sein Schwert mitgebracht, um sie zu zwingen, den Eheschwur zu leisten? Madeline sah ihn vorsichtig an. Seine wilden Augen würden wohl niemals gezähmt werden können und waren noch stärker als der Stahl an seiner Seite. »Ja, ich will«, war es schon aus ihr heraus, und danach fühlte sie sich etwas benommen. Vom Rest der Zeremonie bekam sie kaum noch etwas mit. »... und damit erkläre ich euch zu Mann und Frau«, schloss Fitzleger mit deutlich hörbarer Erleichterung. Er klappte rasch das Messbuch zu und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Als das Brautpaar danach immer noch steif vor ihm stand, schlug der Geistliche vor: »Ihr dürft die Braut jetzt küssen, Mylord.«
»Das weiß ich«, knurrte Anatole und drehte sich zu seiner Frau um. Madeline erstarrte und bereitete sich auf einen weiteren dieser wilden Küsse vor, nach denen man kaum noch gerade auf den Beinen stehen konnte. Doch St. Leger ließ die Arme herabhängen, als wisse er nicht, was er mit ihnen anfangen solle. Und etwas trat in seine Augen, das Madeline nicht genau identifizieren konnte: entweder Zorn oder Bedauern. Vermutlich Ersteres, denn Letzteres kannte dieser Mann ja nicht. Kaum merklich beugte er sich vor und küsste seine Braut so sanft und weich, dass sie kaum mehr als einen Hauch spürte. Als Anatole sich wieder abwandte, strich sie sich mit einer Hand über diese Gesichtspartie. Ein merkwürdiges Verlangen war in ihr entstanden, das ihr völlig fremd war und sie deswegen umso mehr irritierte. Am liebsten hätte Madeline die Hand ausgestreckt und ihn an sich gezogen. Doch St. Leger schien schon mit ganz anderen Dingen beschäftigt zu sein. Er griff nach seinem Umhang, den er
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