St. Leger 01 - Der Fluch Der Feuerfrau
hatte. Und sofort erwachte ihr Verdacht wieder. »Und Ihr, Mylord?« Wenn Madeline nur etwas mehr Mut gehabt hätte, hätte sie jetzt auch die dunklen Ringe unter seinen Augen berührt.
»Ich habe wie ein Toter geschlafen«, antwortete er und verbesserte sich sofort: »Ich meine natürlich, wie ein Stein.«
»Tatsächlich? Dabei war mir so, als hätte ich aus Eurem Raum Geräusche gehört.«
»Das war bestimmt, als ich meine Uhr aufgezogen habe. Hoffentlich habe ich Euch damit nicht zu sehr gestört.«
»Nein, aber ich möchte Euch eine Frage stellen.« Seid Ihr letzte Nacht in mein Zimmer gekommen und habt mich ausgezogen?
Madeline sah seinen ernsten Blick und wusste, dass sie niemals einen solchen Verdacht äußern konnte. Die junge Frau brauchte alle Kraft, um nicht vor ihm zu erröten, und so plapperte sie das Erstbeste heraus, was ihr in den Sinn kam. »St. Gothian's wirkt sehr alt. Ich habe mich gefragt, wann die Kirche wohl erbaut wurde.« Bildete sie sich das nur ein, oder sackten tatsächlich seine Schultern erleichtert herab? »Dieser Bau dient schon seit vielen Jahrhunderten als Gotteshaus. Er wurde unter Edward dem Bekenner erbaut, also wenige Jahrzehnte nach der Jahrtausendwende. Und es heißt, die erste Kirche wurde auf einem alten heidnischen Altar errichtet« Madelines Blick wanderte durch das Innere - über die Kanzel, das Taufbecken, das wunderbar geschnitzte Kreuz, die Orgel und das großartige Steinrelief, auf dem die Drei Weisen abgebildet waren, wie sie gerade ihre Gaben überreichten.
»Erstaunlich, dass so vieles den Bürgerkrieg überstanden hat«, meinte sie. »Die Puritaner haben doch überall die Kirchen verwüstet.«
»Meine Vorfahren konnten die bemalten Glasfenster zwar nicht vor Cromwells Soldaten retten, aber sie haben sonst alles aus der Kirche herausgeschafft und versteckt. Sowohl die Kirche wie auch das umliegende Land gehören nämlich zu unserem Grund und Boden, und die St. Legers pflegen die ihren zu schützen.«
»Schließt das auch mich ein?«
»Natürlich.«
»Heißt das etwa, wenn jemand mich bedrohte, würdet Ihr...«
»Ihn töten«, antwortete Anatole so ernst, dass es sie gleichzeitig fröstelte und ihr das Herz wärmte. Zwar würde sie wohl auf Liebe und Zuneigung verzichten müssen, aber solcherart beschützt zu werden, war ja nicht das Schlechteste. Die junge Frau wanderte an den alten, mit Schnitzwerk versehenen Bankreihen entlang, die den Geruch von Weihrauch und salzigem Tang zu verströmen schienen. Der Burgherr wirkte nicht mehr so nervös, im Gegenteil, es schien ihm zu gefallen, dass sie so ungehemmt ihre Neugier stillte.
Madeline fiel auf, dass die St. Legers keine eigene abgeschlossene und abgesetzte Bankreihe besaßen, wie das in anderen Kirchen üblich war. Auf ihre Frage antwortete er: »Die Dorfbewohner haben es immer schon vorgezogen, ihre Herren deutlich sehen zu können. Dann scheinen sie sich sicherer zu fühlen.«
Das konnte die junge Frau gut verstehen. Wenn sie Anatole vor sich hatte, machte sie das weniger nervös, als wenn er, so wie jetzt, hinter ihr stand. Und wenn seine Vorfahren eine ähnliche Ausstrahlung besessen hatten ... Mit einem Mal fiel ihr ein, dass sie so gut wie nichts über die Familie wusste, in die sie eingeheiratet hatte. »Ich hatte eigentlich erwartet, dass einige Eurer Verwandten an unserer Trauung teilnehmen würden.«
»Oh, aber die sind doch hier.«
Als sie fragend zu ihm hinsah, deutete er auf den Boden, und jetzt entdeckte die junge Frau etwas, das ihr vorher entgangen war: in die ausgetretenen Steinplatten waren Namen eingemeißelt. In vielen Gemeinden wurden Tote unter dem Gotteshaus begraben, dennoch wurde Madeline jetzt unsicher und trat hastig von den Gedenksteinen zurück, über die sie eben so achtlos geschritten war. »Die St. Legers werden schon seit langem hier statt auf dem Friedhof bestattet«, erklärte Anatole. »Dahinter steckt die Hoffnung, dass sie durch das Gewicht der Kirche eher in ihren Gräbern fest gehalten werden.«
»Was?«
Eilig fügte er hinzu: »Natürlich meine ich damit den heiligeren Boden. So finden sie eher ihre ewige Ruhe.«
»Ach so.« Ihr Gemahl hatte wirklich eine sonderbare Art, gewisse Dinge zu erklären. »Und Eure Eltern liegen auch hier?«
»Nein.« Ein Schatten legte sich über seine Züge. »Meine Mutter und mein Vater wurden ... woanders beigesetzt.« Madeline spürte, dass sie mit ihrer Frage an einer offenen Wunde gerührt hatte, und beschloss, lieber die
Weitere Kostenlose Bücher