Stefan Zweig - Gesammelte Werke
seinem Zorn und die Napoleonischen Kriege mit seiner Begeisterung. Von diesem Augenblick an fühlt er, daß es ein wirkliches Frankreich geben müsse, das er nicht kennt, und einmal in einem Gespräch fragt er Sylvain Kohn: »Wo ist denn Frankreich hier?« Stolz antwortet Sylvain Kohn: »Frankreich, das sind wir!« Johann Christof lächelt bitter, er weiß, daß er es lange suchen muß, denn sie haben es gut versteckt.
Da endlich kommt jene Begegnung, die für ihn Schicksalswende und Erkenntnis ist, er lernt Olivier, den Bruder Antoinettes kennen, den wahren Franzosen. Und wie Dante, von Virgil belehrt, durch immer neue Kreise des Erkennens wandert, so entdeckt er, geführt von seiner »seelenkundigen Intelligenz«, mit Staunen, daß hinter diesem Vorhang von Lärm, hinter diesen schreienden Fassaden eine Elite in der Stille arbeitet. Er sieht das Werk von Dichtern, deren Namen nie genannt werden in den Tageszeitungen, sieht das Volk, die vielen stillen, anständigen Menschen, die abgesondert von dem Getümmel ihr Werk tun, jeder für sich. Er erkennt den neuen Idealismus eines Frankreich, das an der Niederlage seelisch stark geworden ist. Zorn und Erbitterung ist sein erstes Gefühl bei dieser Entdeckung. »Ich verstehe euch nicht«, schreit er den sanften Olivier an, »ihr lebt in dem schönsten Land, seid wundervoll begabt, habt den menschlichsten Sinn und wißt damit nichts anzufangen. Ihr laßt euch von einer Handvoll Lumpen beherrschen und mit Füßen treten. Steht doch auf, tut euch zusammen, fegt euer Haus rein!« Der erste, der natürlichste Gedanke des Deutschen ist Organisation, der Zusammenschluß der guten Elemente, der erste Gedanke des Starken der Kampf. Aber gerade die Besten in Frankreich beharren darauf, abseits zu bleiben: irgendeine geheimnisvolle Klarheit einerseits, eine leichte Resignation andererseits, jener Tropfen Pessimismus in der Klugheit, den Renan am sinnfälligsten ausdrückt, schreckt sie vom Kampf zurück. Sie wollen nicht handeln, und das allerschwerste ist, sie zu veranlassen, gemeinsam zu handeln: »sie sind zu klug, sie sehen den Rückschlag vor dem Kampf«, sie haben nicht den deutschen Optimismus, und darum bleiben sie alle isoliert und einsam, die einen aus Vorsicht, die anderen aus Stolz. Irgend etwas von einem »Stubenhockergeist« ist in ihnen, und Johann Christof sieht es am besten im eigenen Haus. In jedem Stockwerk wohnen anständige Leute, die sich wundervoll miteinander verständigen könnten, aber sie schließen sich gegeneinander ab. Zwanzig Jahre gehen sie auf den Treppen aneinander vorüber, ohne sich zu kennen oder sich umeinander zu kümmern und so ahnen sich die besten unter den Künstlern nicht.
Da erkennt nun plötzlich Johann Christof in Vorteil und Gefahr den wesentlichen Gedanken des französischen Volkes: die Freiheit. Jeder will frei sein, keiner sich binden. Sie verschwenden unerhörte Quantitäten von Kraft, indem sie, jeder für sich, den ganzen Zeitkampf auskämpfen, aber sie lassen sich nicht organisieren, nicht zusammenspannen. Wird ihre Tatkraft auch von ihrer Vernunft gelähmt, so bleibt sie doch frei in ihren Gedanken, und so bleiben sie einerseits befähigt, alles Revolutionäre mit der religiösen Inbrunst des Einsamen zu durchdringen, andererseits ihren Glauben immer wieder revolutionär zu erneuern. Diese ihre Konsequenz ist ihre Rettung, denn sie bewahrt sie vor der Ordnung, die sie starr macht, vor der Mechanisierung, die vereinheitlicht. Johann Christof begreift, daß die lärmende Jahrmarktsbude nur da ist, um die Gleichgültigen anzulocken und den wahrhaft Tätigen ihre schöpferische Einsamkeit zu lassen. Er sieht, daß dieser Lärm als Anfeuerung zur Arbeit für das französische Temperament Bedürfnis ist, daß die scheinbare Inkonsequenz in den Gedanken eine rhythmische Form beständiger Erneuerung ist. Sein erster Eindruck war, wie der so vieler Deutscher, die Franzosen seien fertig. Nach zwanzig Jahren erkennt er, daß er richtig gesehen und sie immer fertig waren, um immer neu anzufangen, daß in diesem scheinbar widerspruchsvollen Geist eine geheimnisvolle Ordnung waltet, eine andere wie im deutschen Wesen, und eine andere Freiheit. Und der Weltbürger, der keiner Nation mehr die Prägung seiner eigenen aufzwingen möchte, sieht lächelnd und froh die ewige Verschiedenheit der Rassen, aus denen sich, wie aus den sieben Farben des Spektrums, das Licht der Welt, die wundervolle Vielfalt des ewig Gemeinsamen, der ganzen Menschheit
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