Stefan Zweig - Gesammelte Werke
ganzes Stück Welt neu zu schaffen: eine Moral, eine Ästhetik, einen Glauben, eine neue Menschheit. – So sind wir gewesen.
Ihr Menschen von heute, ihr jungen Menschen, nun ist die Reihe an euch! Schreitet über unsere Leiber hinweg und tretet in die vorderste Reihe. Seid größer und glücklicher als wir. Ich selbst nehme Abschied von dem, was meine Seele war; ich werfe sie hinter mich wie eine leere Hülle. Das Leben ist eine Folge von Toden und Auferstehungen. Laß uns sterben, Christof, auf daß wir wieder geboren werden.«
Der letzte Blick
J ohann Christof ist am anderen Ufer, er hat den Strom des Lebens durchschritten, umrauscht von großer Musik. Schon scheint das Erbe geborgen, der Sinn der Welt, den er auf den Schultern durch Sturm und Flut getragen: der Glaube an das Leben.
Noch einmal sieht er hinüber zu den Menschen, hinüber in das verlassene Land. Fremd ist ihm alles geworden, er versteht die Neuen nicht mehr, die dort sich mühen und quälen in leidenschaftlichem Wahn. Er sieht ein neues Geschlecht, anders jung als das seine, kraftvoller, brutaler, unduldsamer, von anderem Heroismus beseelt als die früheren. Sie haben am Sport ihren Körper gekräftigt, in Flügen ihre Kühnheit gereift, »sie sind stolz auf ihre Muskeln und ihre breite Brust«, sie sind stolz auf ihr Vaterland, stolz auf ihre Religion, auf ihre Kultur, auf alles Gemeinsame, das sie selbst zu sein scheinen, und aus jedem Stolz schmieden sie eine Waffe. Sie haben »mehr Verlangen, zu handeln als zu verstehen«, sie wollen ihre Kraft zeigen und versuchen. Mit Schrecken erkennt der Sterbende: diese Generation, die selbst den Krieg nicht mehr gekannt, will den Krieg.
Schauernd blickt er um sich: »Die Feuersbrunst, die im Walde Europas glomm, begann aufzuflammen. Wenn man sie auch hier unterdrückte, etwas weiter fort entzündete sie sich wieder; mit Rauchwirbeln und Funkenregen sprang sie von einem Punkt zum anderen und brannte das dürre Buschwerk nieder. Im Orient fanden als Vorspiel zu dem großen Kriege der Nationen bereits Vorpostengefechte statt. Europa, das gestern noch zweiflerisch und apathisch wie ein toter Wald dalag, wurde eine Beute des Feuers. Die Sehnsucht nach Kampf brannte in allen Seelen. In jedem Augenblick konnte der Krieg ausbrechen. Man erstickte ihn. Er lebte wieder auf. Der geringste Vorwand bot ihm Nahrung. Die Welt fühlte sich von einem Zufall abhängig, der das Gemetzel entfesseln würde. Sie wartete. Auf den Friedliebenden lastete das Gefühl der Notwendigkeit. Und die Ideologen, die sich hinter dem massigen Schatten Proudhons verschanzten, feierten im Kriege den höchsten Adelstitel des Menschen…
Damit also mußte die körperliche und seelische Wiederauferstehung der Rassen des Okzidents enden! Zu solchen Schlächtereien rissen die Strömungen leidenschaftlichen Tatendranges und Glaubens sie hin! Nur ein napoleonisches Genie hätte diesem blinden Dahinrasen ein vorgefaßtes und erwähltes Ziel setzen können. Aber ein Genie der Tat gab es in Europa nirgends. Man hätte meinen können, die Welt habe unter den Unbedeutendsten die Auswahl getroffen, damit sie sie regieren. Die Kraft des menschlichen Geistes lag anderwärts.«
Und da gedenkt Christof der einsamen Nachtwache in vergangener Zeit, da das angstvolle Antlitz Oliviers neben ihm war. Damals hatte sich nur eine Gewitterwolke am Himmel gezeigt, jetzt bedeckten ihre Schatten ganz Europa. Vergebens also der Ruf nach Einheit, vergebens der Weg durch das Dunkel. Mit tragischer Gebärde blickt der Seher in die Zeit zurück und sieht in der Ferne die apokalyptischen Reiter, die Boten des Bruderkrieges.
Aber neben dem Sterbenden lächelt wissend das Kind: das ewige Leben.
Intermezzo scherzoso (»Meister Breugnon«)
»Breugnon, mauvais garçon, tu ris,
n’as tu pas honte? – Que veux tu,
mon ami, je suis, ce que je suis.
Rire ne m’empèche pas de souffrir;
mais souffrir n’empèchera jamais un
bon Français de rire. Et qu’il rie
ou larmoie, il faut d’abord, qu’il
voie«.
Rolland, Colas Breugnon
Die Überraschung
Z um erstenmal hat dieses bewegte Leben Rast. Der große zehnbändige Johann-Christof-Roman ist vollendet, das europäische Werk getan: zum erstenmal lebt Romain Rolland außerhalb seines Werkes, frei für neues Wort, neue Gestalten, neues Werk. Sein Schüler Johann Christof ist in die Welt gegangen – als »der lebendigste Mensch, den wir kannten«, wie Ellen Key sagte –, er sammelt Freunde um sich, eine stille und immer
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