Stefan Zweig - Gesammelte Werke
wachsende Gemeinde, aber was er verkündet, ist für Rolland schon Vergangenheit. Und er sucht einen neuen Boten für neue Botschaft.
Wieder ist Romain Rolland in der Schweiz, dem geliebten Land zwischen den drei geliebten Ländern, das so vielen seinen Werken günstig gewesen und wo das Werk seiner Werke, der Johann Christof, begonnen und an dessen Grenze es beendet war. Heiterer, stiller Sommer schenkt ihm gute Rast: sein Wille ist ein wenig entspannt; das Wesentliche ist ja getan, lässig spielt er mit verschiedenen Plänen, schon häufen sich die Notizen für einen neuen Roman, für ein Drama aus der geistigen und kulturellen Sphäre Johann Christofs.
Wie so oft bei Romain Rolland, zögert die Hand zwischen den Plänen. Da plötzlich, wie einst vor fünfundzwanzig Jahren auf der Terrasse des Janikulus die Vision des Johann Christof, überfällt ihn jetzt inmitten einiger schlaflosen Nächte eine fremde und doch vertraute Gestalt, ein Landsmann aus Vorväterzeit und stößt alle Pläne mit seiner breiten Gegenwart um. Kurz vorher war Rolland nach Jahren wieder in seiner Heimat, in Clamecy gewesen, seine eigene Kindheit war im Anblick der alten Stadt aufgewacht, unbewußt hat das Gefühl der Heimat in ihm zu wirken begonnen und fordert von ihrem Kinde, das die Ferne geschildert, nun selbst Gestaltung. Er, der mit aller Kraft und Leidenschaft sich aus dem Franzosen zum Europäer emporgerungen und dieses Bekenntnis abgelegt vor der Welt, fühlt nun wieder rechte Lust, für sich selbst auf eine schöpferische Stunde ganz Franzose, ganz Burgunder und Niverneser zu sein. Der Musiker, der in seiner Symphonie alle Stimmen vereinigt, die stärksten Spannungen des Gefühls, sehnt sich nach einem ganz neuen Rhythmus, nach einer Entspannung in die Heiterkeit. Ein Scherzo zu schreiben, ein leichtes freies Werk nach den verantwortungsvollen zehn Jahren, wo er »die Rüstung des Johann Christof um die Seele getragen«, die immer enger ihm gegen das Herz drückt, scheint ihm nun Wollust; ein Werk ganz jenseits von Politik, von Moral, von Zeitgeschichte, göttlich verantwortungslos, eine Flucht aus der Zeit.
Über Nacht fällt der neue Gedanke über ihn her; am nächsten Tage hat er schon in froher Flucht die alten Pläne verlassen, der Rhythmus perlt in tänzerischem Fluß. Und so schreibt zu seinem eigenen freudigen Erstaunen in den wenigen Monaten des Sommers 1913 Romain Rolland seinen heiteren Roman »Colas Breugnon« (»Meister Breugnon«), das französische Intermezzo der europäischen Symphonie.
Der Bruder aus Burgund
E in ganz fremder Geselle aus seiner Heimat und dem eigenen Blut, so glaubt zuerst Rolland, habe ihn da überfallen; wie ein Meteor sei dies Buch aus dem heitern französischen Himmel plötzlich in seine geistige Welt gestürzt. Tatsächlich: die Melodie ist anders, anders die Rhythmik, die Tonart, die Zeit. Aber hört man genauer in diesen Menschen hinein, so bedeutet im letzten auch dies ergötzliche Buch keine Abweichung, sondern nur eine archaisierende Variation von Romain Rollands Leitmotiv des Lebensglaubens; Colas Breugnon der Biedermann aus Burgund, der tapfere Holzschneider, Trinker, Lustigmacher, Farceur, dieser schnurrige Bohnenkönig ist trotz Stulpenstiefel und Halskrause ein ferner Bruder Johann Christofs über Jahrhunderte hinweg, so wie Prinz Aërt und König Ludwig zarte Vorahnen und Brüder Oliviers gewesen waren.
Hier wie immer ist das gleiche Motiv unterstes Fundament des Romans: wie ein Mensch, wie ein schöpferischer Mensch (andere zählen bei Rolland nicht im höchsten Sinn) mit dem Leben und vor allem mit der Tragik des eigenen Lebens fertig wird. Auch das Buch von Colas Breugnon ist ein Künstlerroman wie der Johann Christof, nur ist hier ein neuer Typus des Künstlers gestaltet, der im Johann Christof nicht mehr möglich war, weil er schon unserer Zeit entschwunden ist. Colas Breugnon soll den undämonischen Künstler darstellen, der nur Künstler ist durch Treue, Fleiß und Leidenschaft, der aus dem Handwerk, aus dem täglichen bürgerlichen Beruf erwächst und den nur seine Menschlichkeit, sein Ernst und seine biedere Reinheit zur hohen Kunst erheben. In ihm hat Rolland an alle namenlosen Künstler gedacht, die in den Kathedralen Frankreichs anonym die Steinfiguren schufen und die Portale, die kostbaren Schlösser, die schmiedeeisernen Gewinde, an all die Unbekannten und Namenlosen, die nicht ihre Eitelkeit und ihren Namen mit in den Stein hämmerten, aber irgend etwas anderes
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