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Steile Welt (German Edition)

Steile Welt (German Edition)

Titel: Steile Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stef Stauffer
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nie behindert durch all den Stoff, der ihr um die Beine hing.
    Man ging ins Bett, wenn es dunkel wurde. Wir schliefen im selben, es gab ja nur das eine. Das war aber glücklicherweise breit genug. War ja ursprünglich als Ehebett gedacht gewesen. Mit Kerzen wurde sparsam umgegangen. Im Winter sass die Nonna wohl oft im Dunkeln am Feuer und flocht Stroh. Das konnte sie nämlich blindlings. Das mit dem Strohflechten machte sie in jeder freien Minute, wenn nichts anderes zu tun war. Ich glaube, meine Grossmutter konnte ihre Hände gar nicht ruhen lassen. Auf diese Weise verdiente sie sich etwas Geld. Mir konnte sie das nicht beibringen. Mir fehlte es an Geschick und ihr an Geduld. Vielleicht ahnte sie aber auch, dass die Zukunft nicht mehr viel länger im Strohflechten liegen würde. Später spann sie dann Wolle. Sie hatte ein Spinnrad und kaufte die gewaschene Wolle ein. Nach Gewicht. Diese konnte sie dann gesponnen wieder zurückgeben, natürlich zu einem besseren Preis. Je feiner und regelmässiger gesponnen war, desto mehr bekam sie für das Kilo. Ihre Hände waren grob. Von der vielen schweren Arbeit. Aber sie spann die feinsten Fäden weit und breit. Das war das, was sie sagte. Ich weiss es nicht. Denn ich hatte ja keinen Vergleich. So nahm ihr Leben seinen Gang.
    Kein Gang war umsonst. Laufe nicht mit leeren Händen! Wie oft musste ich das hören, wenn ich über die Wiesen sprang und nichts weiter wollte, als Schmetterlinge jagen. Immer trug sie einen Armvoll Holz, die Schürze gefüllt mit Kastanien oder Pilzen, eine Handvoll Kräuter. Einmal brachte ich ihr darum Pilze. Ich hatte diese unter einem Baum gefunden. Sie warf diese weit weg und schrubbte mir die Hände. Sie spuckte sogar auf den Boden. Che buono a nulla, was für ein Nichtsnutz!, rief sie aus. Kind, du musst noch so viel lernen. Dabei hatte ich das Gefühl, ich wüsste eigentlich ganz schön viel, aus der Schule, viel mehr sogar, als sie wusste. So wusste sie beispielsweise nicht, dass zwischen hier und Amerika ein grosses Meer liegt. Ich sagte einmal zu ihr, ich würde, wenn ich gross sei, mit dem Schiff bis nach Amerika fahren. Da meinte sie nur: Was braucht man ein Schiff, wenn man ein Paar gesunde Beine hat.»
    Das geblümte Kleid zum vorne Zuknöpfen, von oben bis unten. Das wird geschätzt vom Pflegepersonal. Es bedeckt kaum die dicken Knie. Seit den Spritzen ist der Körper aufgedunsen, nicht vom vielen Essen. Wasser lagert sich überall ein. Für eine Decke ist es zu warm. Zu warm auch die Bandagen, welche die Waden einschnüren. Jetzt gäbe man viel für gesunde Beine. Für Amerika muss es nicht reichen. Die Treppe zum Hauseingang würde es tun. Die Füsse taugen nur noch knapp zum Stehen. Schritte haben sie schon lange keine mehr gemacht. Jetzt weiss man, was es wert ist, auf eigenen Beinen zu stehen.
    Vom Zimmer aus der Blick an die gegenüberliegenden Hänge. Grüner Wald und Felswände. Doch das interessiert nicht mehr. Im eigenen Haus möchte man sein, auch wenn es dort nicht mehr zu sehen gibt. Das Begreifen, dass die eigenen Kinder selber bereits zu alt geworden sind, um die Mutter zu pflegen, hat nicht eingesetzt. Die Wahrnehmung für die anderen ist in einem gewissen Alter stehen geblieben.
    «Bei ihr erlernte ich die Sparsamkeit. Für alles gab es eine Verwendung, und nichts wurde umsonst getan. Kein Essen fiel vom Himmel, und jede Arbeit war dazu da, das Leben annehmlich zu machen. Alles hatte seinen Sinn und seine Zeit. Das Pflanzen, das Heuen, das Sammeln und das Lagern. Nichts, aber auch gar nichts wurde weggeworfen. Dieses Wissen hat mir natürlich später, als ich selber eine Familie ernähren musste, sehr viel geholfen. Die Sache mit den Kräutern allerdings blieb für mich ein Geheimnis. Ihr Tee, die Salben oder die Wickel, die halfen immer. Sie stellte das alles selber her. Die Pflanzen und Zutaten sammelte sie unterwegs. Über dem Kamin hing immer ein Büschel von irgendeinem Kraut zum Trocknen. Manchmal warf sie eine Handvoll dürre Blätter oder Blüten ins Feuer. Warum, hatte sie mir nie gesagt. Über diese Dinge sprach sie nie. Vielleicht spürte sie, dass ich für solches nicht gemacht war. Zu einer anderen Zeit und andernorts hätte man sie vielleicht als Hexe verfolgt. Heutzutage gälte sie wohl als Heilerin.
    Die Ziegen waren recht selbständig. Am Morgen liess man sie aus dem Stall, und am Abend wurden sie zurückgeholt. Es ist Zeit für die Ziegen, sagte dann Grossmutter zu mir, mitten in der Arbeit. Ich habe

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