Sterben: Roman (German Edition)
oder Lebensweisheit verbunden war, sondern sein anspruchsloses Leben unverändert in und unabhängig von seinem Gesicht gelebt haben musste, seit er Anfang der sechziger Jahre Gestalt angenommen hatte.
Yngve schob den Pfannenwender unter die Eier und legte sie nacheinander auf einen breiten Teller, stellte ihn neben dem Brotkorb auf den Tisch, holte die Kanne und füllte die drei Tassen. Seit ich vierzehn war, trank ich zum Frühstück eigentlich immer Tee, hatte aber nicht das Herz, ihn darauf hinzuweisen, und nahm mir stattdessen eine Scheibe Brot und hob mit dem Pfannenwender, den Yngve auf den Tellerrand gelegt hatte, ein Ei darauf.
Auf der Suche nach einem Salzstreuer suchten meine Augen den Tisch ab, aber es war keiner zu sehen.
»Ist irgendwo Salz?«, erkundigte ich mich.
»Hier«, sagte Kari Anne und reichte es mir über den Tisch hinweg.
»Vielen Dank«, sagte ich, öffnete die kleine Klappe des Plastikstreuers und sah, wie die kleinen Körnchen in den gelben Dotter einsanken und dessen Oberfläche kaum merklich perforierten, während die Butter darunter langsam schmolz und ins Brot einzog.
»Wo ist Torje?«, sagte ich.
»Er liegt noch oben und schläft«, antwortete Kari Anne.
Ich aß einen Bissen von meinem Brot. Das gebratene Eiweiß war an der Unterseite knusprig, es waren große, bräunlich schwarze Schuppen, die beim Kauen zwischen Gaumen und Zunge zersplitterten.
»Schläft er noch viel?«, sagte ich.
»Na ja … Sechzehn Stunden am Tag vielleicht? Ich weiß es nicht. Was meinst du?«
Sie drehte sich zu Yngve um.
»Keine Ahnung«, meinte er.
Ich biss in den Dotter, der gelb und lauwarm in meinen Mund floss. Trank einen Schluck Kaffee.
»Beim Tor für Norwegen hat er ganz schön Angst bekommen«, sagte ich.
Kari Anne lächelte. Wir hatten das zweite von Norwegens WM-Spielen zusammen gesehen, und Torje hatte am anderen Ende des Zimmers in einer Wiege geschlafen. Als unser Gebrüll nach dem Tor verebbte, war von dort ein gellender Schrei ertönt.
»Das mit Italien war übrigens echt schade«, sagte Yngve. »Haben wir darüber eigentlich schon geredet?«
»Nein«, sagte ich. »Aber die wussten ganz genau, was sie taten. Es kam nur darauf an, Norwegen den Ball zu überlassen, schon brach alles zusammen.«
»Wahrscheinlich waren sie nach dem Spiel gegen Brasilien auch noch kaputt«, meinte Yngve.
»Das war ich auch«, sagte ich. »Der Elfmeter gehört zum schlimmsten, was ich jemals mitgemacht habe. Ich konnte kaum hinschauen.«
Dieses Spiel hatte ich in Molde gesehen, bei Tonjes Vater. Als es vorbei war, hatte ich Yngve angerufen. Wir waren beide den Tränen nahe gewesen. Eine ganze Kindheit mit einer chancenlosen norwegischen Fußballnationalmannschaft lag in unseren Stimmen. Hinterher war ich mit Tonje ins Stadtzentrum gegangen, und die Stadt war voller hupender Autos und wehender Flaggen gewesen. Fremde Menschen umarmten sich, überall hörte man Rufe und Gesänge, Menschen liefen aufgedreht herum, Norwegen hatte Brasilien in einem entscheidenden WM -Spiel geschlagen, und keiner wusste, wie weit diese Mannschaft noch kommen würde. Vielleicht sogar bis ins Finale?
Ylva rutschte von ihrem Stuhl herunter und nahm meine Hand.
»Komm«, sagte sie.
»Karl Ove muss erst essen«, wandte Yngve ein. »Nachher, Ylva!«
»Nein, ist schon okay«, sagte ich und ging mit ihr. Sie zog mich zur Couch, nahm ein Buch vom Tisch und setzte sich. Ihre kurzen Beine reichten nicht einmal bis zum Rand.
»Ich soll dir vorlesen?«, sagte ich.
Sie nickte. Ich setzte mich neben sie und öffnete das Buch. Es handelte von einer Kohlraupe, die alles Mögliche fraß. Als ich es ausgelesen hatte, krabbelte sie nach vorn und holte ein neues Buch vom Tisch. Es handelte von einer Maus namens Frederik, die im Gegensatz zu den übrigen Mäusen im Sommer kein Futter sammelte, sondern lieber herumsaß und träumte. Die anderen verurteilten die Faulheit der Maus, aber als es Winter wurde und alles weiß und kalt war, schenkte Frederik ihrem Dasein Farbe und Licht. Das war es, was er gesammelt hatte, und das war es, was sie nun brauchten, Farben und Licht.
Ylva saß ganz still neben mir und sah konzentriert auf die Seiten, zeigte ab und zu auf etwas und sagte, wie es hieß. Es war schön, so mit ihr zusammenzusitzen, aber auch ein wenig langweilig. Ich hätte mir gut vorstellen können, alleine mit einer Zigarette und einer Tasse Kaffee auf der Veranda vor dem Fenster zu sein.
Auf der letzten Seite war Frederik ein
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