Sterblich
Antwort.
Die Kirche von Ris wurde 1932 als Langkirche im romanischen Stil erbaut. Alle drei Kirchenglocken läuten bereits, als Henning im Taxi vorfährt. Er steigt aus und mischt sich unter die Trauergäste.
Beim Betreten der Kirche bekommt er eine Karte mit Henriette Hagerups Namen und ihrem lächelnden Konterfei in die Hand gedrückt. Er hat das Bild schon einmal gesehen, es hing vor einer knappen Woche an ihrem Altar vor der Schule. Er erinnert sich, damals gedacht zu haben, wie intelligent sie aussieht. Ohne jemanden anzusehen, sucht er sich einen Platz in der letzten Reihe. Nicht einmal seine nächsten Nachbarn sieht er an, er will niemanden sehen, nicht reden. Noch nicht.
Die Andacht ist schön, würdevoll, ruhig und traurig. Die monotone Stimme des Pastors erfüllt den Raum, begleitet von unterdrückten Schluchzern und stillem Weinen. Henning versucht nicht, an seinen letzten Besuch in einer Kirche zu denken, an das letzte Mal, als er Menschen über den Fortgang eines Kindes weinen gehört hat, aber die Gedanken sind nicht aufzuhalten. Selbst in der Andacht des Pfarrers hört er die Klänge von »Kleiner Freund« in seinem Kopf.
Nach einer Viertelstunde erhebt er sich und verlässt den Kirchenraum. Die Stimmung, der spezielle Geruch der alten Kirche, die Geräusche, Kleider, Gesichter, all das wirft ihn zwei Jahre zurück. Als er damals ganz vorn in der Kirche saß, hat er sich gefragt, ob er jemals wieder ein funktionierender Mensch sein würde, ob es ihm jemals gelingen würde, sich wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen.
Wie wenig sich im Grunde genommen getan hat seitdem, denkt er. Damals hatte er nicht den Mut, an das zu denken, was ihn draußen erwartete, an das Unabgeschlossene, das er nicht an die Oberfläche lassen wollte. Aber jetzt, da er weiß, dass sein Kopf wieder funktioniert, gibt es keinen Weg daran vorbei. Ich werde es mir nicht ersparen können, denkt er, ich muss etwas gegen die Kralle in meiner Brust tun, gegen dieses nagende Uhrwerk, das so rhythmisch in meinem Innern schlägt. Sonst gibt es mich niemals frei, sonst werde ich nie zur Ruhe kommen, um endlich einen Schlussstrich zu ziehen und mich zurückzulehnen.
Weil ich weiß, dass ich recht habe.
Er lockert den Schlipsknoten ein wenig, als er ins Freie tritt und die frische Brise im Gesicht spürt. Er macht ein paar Schritte vom Eingang weg. Die Stimme des Pfarrers ist durch die offene Tür bis nach draußen zu hören. Ein Gärtner bepflanzt ganz in der Nähe ein Grab. Henning geht über den Rasen, zwischen den Grabumrandungen hindurch. Das Gras ist kurz und glänzt frisch und grün, alle Pflanzen sind sorgfältig gestutzt worden.
Er geht auf die Rückseite der Kirche, auf der die Grabsteine wie Zahnstummel aus der Erde ragen, schlendert in aller Seelenruhe weiter und denkt, dass er Jonas schon lange nicht mehr besucht hat. Dann sieht er sie und schiebt seinen Gedanken schnell beiseite.
Anette steht vor dem rechteckigen Loch in der Erde, in dem Henriette ihre letzte Ruhe finden wird. Sogar jetzt trägt sie ihren Rucksack. Er spürt eine Welle der Nervosität durch seinen Körper rollen, als er beschließt, zu ihr zu gehen. Es ist sonst niemand in der Nähe. Sie trägt einen schwarzen Rock und einen schwarzen Blazer über einer ebenfalls schwarzen Bluse.
Anette dreht sich um, als er leise hinter sie tritt.
»Haben Sie es drinnen auch nicht länger ausgehalten?«, sagt sie und lächelt kurz.
»Hallo, Anette«, sagt er, stellt sich neben sie und blickt in das Loch.
»Ich hasse Beerdigungen«, beginnt sie. »Ich finde es besser, mich auf diese Weise zu verabschieden, hier draußen, bevor auch hier die Hysterie ausbricht.«
Er nickt wortlos. Eine ganze Weile sagt keiner von beiden etwas.
»Ich habe nicht damit gerechnet, Sie hier zu sehen«, sagt sie schließlich und dreht sich zur Seite. »Wenig zu tun heute?«
»Nein«, antwortet Henning. »Ich bin genau dort, wo ich sein muss.«
»Wie meinen Sie das?«
Er tritt einen Schritt näher an die Kante des ausgehobenen Grabes heran, schaut hinein und denkt an die Worte des Autors Kolbein Falkeid, die von Vamp vertont wurden:
Und wenn die Nacht anbricht, gehe ich still an Bord,
Fahre sechs Fuß tief unter der Erde in meinem Lebensboot fort.
Dreiundzwanzig, denkt Henning. Henriette Hagerup ist nicht älter als dreiundzwanzig Jahre geworden. Ob sie wenigstens gespürt hat, dass sie gelebt hat?
Er schiebt eine Hand in die Jackentasche.
»Sie glauben, an alles gedacht zu
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