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Sterntagebücher

Sterntagebücher

Titel: Sterntagebücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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verlieren, ausgehöhlt. Diese Angst haben wir überwunden. Denn was immer auch für Erschütterungen, Krankheiten, Kataklismen unser Leben heimsuchen – jeder von uns hat stets einen Vater, eine Mutter, einen Gatten und Kinder. Doch damit nicht genug. Was unveränderlich ist, beginnt nach einer gewissen Zeit zu langweilen, ganz gleich, ob uns Gutes oder Böses widerfährt. Gleichzeitig jedoch verlangt es uns nach einem dauerhaften Schicksal, wir wollen es vor Störungen und Tragödien bewahren. Wir wollen existieren und nicht vergehen, uns verändern und doch von Bestand sein, alles sein, ohne etwas zu riskieren. Diese Widersprüche, scheinbar miteinander unvereinbar, sind bei uns Wirklichkeit. Wir haben sogar den Antagonismus der sozialen Höhen und Tiefen abgetragen, jeder kann nämlich an jedem Tag der höchste Herrscher sein, denn es gibt keine Lebensweise, keine Wirkungssphäre, die jemandem verschlossen wäre.
      Jetzt kann ich dir enthüllen, was das über dich verhängte Strafmaß bedeutet. Es bedeutet das größte Unglück, das einem Panter zustoßen kann: nämlich den Ausschluß aus der allgemeinen Auslosung und den Übergang zu einsamer individueller Existenz. Die Identifikation ist ein Akt der Zerschmetterung einer Person, indem man ihr die grausam unerbittliche Last lebenslänglicher Individualität aufbürdet. Du mußt dich beeilen, wenn du mir noch Fragen stellen willst, denn es wird Mitternacht; ich muß dich bald verlassen.«
      »Wie werdet ihr mit dem Tod fertig?« fragte ich.
      Der Verteidiger sah mich mit gefurchter Stirn und mit lächelndem Gesicht an, als versuchte er, diese Worte zu begreifen. Schließlich sagte er: »Tod? Das ist ein veralteter Begriff. Es gibt dort keinen Tod, wo es keine Individuen gibt. Bei uns stirbt niemand.«
      »Aber das ist doch Unsinn, an den du selbst nicht glaubst!« rief ich. »Jedes Lebewesen muß sterben, also auch du!«
      »Ich, das heißt wer?« unterbrach er mich lächelnd.
      Ein Augenblick des Schweigens folgte.
      »Du, du selbst!«
      »Wer bin ich denn, ich selbst, außer meiner heutigen Planstelle? Ein Name, ein Vorname? Ich habe keinen. Ein Gesicht? Dank den biologischen Eingriffen, die bei uns vor Jahrhunderten vorgenommen worden sind, ist mein Gesicht das gleiche wie bei allen. Eine Planstelle? Die ändert sich um Mitternacht. Was bleibt? Nichts. Überlege, was der Tod bedeutet. Er ist ein Verlust, tragisch durch seine Unabwendbarkeit. Wen verliert der, der stirbt? Sich selbst? Nein, denn ein Toter existiert nicht, und wer nicht existiert, kann nichts verlieren. Der Tod ist eine Angelegenheit der Lebenden – er ist der Verlust eines Nahestehenden. Wir verlieren nie unsere Nächsten. Das habe ich dir doch schon vorher gesagt. Jede Familie ist bei uns ewig. Tod – das würde bei uns die Aufhebung einer Planstelle bedeuten. Die Gesetze lassen das nicht zu. Ich muß nun gehen. Leb wohl, Fremdling.«
      »Warte!« rief ich, da ich sah, daß mein Verteidiger aufstand. »Es gibt bei euch dennoch Unterschiede, es muß welche geben, selbst wenn ihr einander wie Zwillinge gleicht. Ihr müßt Greise haben, die…«
      »Nein. Wir führen nicht Buch über die Anzahl der Planstellen, die jemand innehatte. Wir führen auch nicht Buch über die astronomischen Jahre. Niemand von uns weiß, wie lange er lebt. Die Planstellen sind zeitlos. Ich muß fort.«
      Mit diesen Worten entfernte er sich. Ich blieb allein. Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und der Verteidiger erschien wieder. Er trug die gleiche lilienfarbene Uniform mit den goldenen Blitzen eines Angelisten II. Ranges, und er hatte das gleiche Lächeln.
      »Ich stehe dir zu Diensten, angeklagter Fremdling von einem anderen Gestirn«, sagte er, und mir schien, daß es eine neue Stimme war, die ich noch nicht gehört hatte.
      »Dennoch ist bei euch etwas unveränderlich: die Planstelle des Angeklagten!« rief ich.
      »Du irrst. Das gilt lediglich für die Fremden. Wir können es nicht zulassen, daß jemand unter dem Schutz einer Planstelle versucht, unseren Staat von innen zu zersetzen.«
    »Bist du in der Rechtswissenschaft bewandert?« fragte ich.
      »Die Gesetzbücher kennen sich darin aus. Im übrigen findet dein Prozeß erst übermorgen statt. Die Planstelle wird dich verteidigen…«
      »Ich verzichte auf eine Verteidigung.«
      »Du willst dich selbst verteidigen?«
      »Nein. Ich will verurteilt werden.«
      »Du bist leichtsinnig«, sagte der

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