Stout, Maria
32 Grad war es ohnehin ein warmer Tag. Als die Sonne allmählich
unterging, erhob sich ein Gejohle und Geschrei, das Feuer endlich anzuzünden,
und als die Flammen schließlich am Holz emporzüngelten, ging ein Raunen durch
die Menge. Sofort begannen die Flammen, das Holzgebilde zu verschlingen, mit
der ihnen eigenen unaufhaltsamen Gewalt, vom Sand bis hinauf zu einem plötzlich
hell erleuchteten Nachthimmel. Und dann kam die Hitze. Sie fühlte sich fast wie
eine feste Wand an, wälzte sich wie eine Lawine unerträglicher, gar
furchteinflößend überhitzter Luft vom Feuer aus heran, in Wellen zunehmender
Intensität, überraschte die Menge und drückte sie zurück. Wann immer ich
dachte, nun weit genug entfernt zu sein, musste ich abermals fünfzig Meter
zurückweichen, und wieder und wieder weitere fünfzig Meter. Mein Gesicht brannte.
Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ein Freudenfeuer eine solche Hitze
erzeugen konnte, selbst wenn es drei Stockwerke hoch war.
Nachdem
die Menschen weit genug zurückgewichen waren, stellte sich wieder eine
fröhlich-faszinierte Stimmung ein, und als die geschmückte Spitze des Turms vom
Feuer verzehrt wurde, applaudierte die Menge. Auf der Spitze des Turms war ein
Häuschen errichtet worden, in dessen Innern nun ein kleines Inferno wütete.
Dieser Anblick und das diffuse Gefühl der Gefahr und die Hitze irritierten mich
irgendwie, und anscheinend konnte ich die festliche Stimmung nicht teilen.
Stattdessen fielen mir seltsamerweise die Hexenverbrennungen im 16. und 17.
Jahrhundert ein, Ereignisse, die mir schon immer unbegreiflich waren, und trotz
der Hitze erschauderte ich. Es ist eine Sache, von einem Feuer zu lesen, das
groß genug ist, einen Menschen zu töten, aber es ist eine andere Sache,
inmitten einer aufgeregten, johlenden Menge vor einem solchen Feuer zu stehen.
Die finsteren geschichtlichen Assoziationen ließen mich nicht los und hinderten
mich hartnäckig daran, den Augenblick zu genießen.
Ich fragte
mich: Wie konnte es zu diesen Hexenverbrennungen kommen? Wie konnten solche
Albträume Wirklichkeit werden? Als notorische Psychologin sah ich mich in der
Menschenmenge um. Natürlich waren dies keine verwirrten baskischen Flüchtlinge
im Jahre 1610, die fanatisch nach Anhängern des Teufels fahndeten, um sie zu
verbrennen. Nein, hier stand ich inmitten einer Menschenmenge des neuen
Jahrtausends, zwischen friedliebenden, unhysterischen Bürgern, die frei von
Entbehrungen oder bedrohlichem Aberglauben waren. Hier gab es keine Blutgier
oder unterjochte Gewissen. Es herrschte Gelächter und ein Gefühl guter
Nachbarschaft. Wir aßen Hot Dogs und tranken Limonade und feierten den
Unabhängigkeitstag. Wir waren kein herzloser, unmoralischer Mob, und unter
keinen Umständen hätten wir uns um einen Mord geschart, geschweige denn um eine
öffentliche Folterung. Hätte plötzlich durch eine bizarre Verwerfung der Realität
eine menschliche Gestalt in den Flammen gezuckt, wäre nur die anonyme Hand voll
Soziopathen unter uns davon unberührt geblieben oder gar belustigt worden. Von
den anderen wären einige wenige gute Leute fassungslos erstarrt, einige
besonders couragierte Zeitgenossen hätten versucht einzuschreiten, während der
größte Teil der Menge in verständlichem Entsetzen geflohen wäre. Und das bis
dahin fröhliche Freudenfeuer wäre zu einem traumatischen Schreckensbild
geworden, das sich unauslöschlich bis zum Sterbebett in unser aller Erinnerung
eingebrannt hätte.
Aber wenn
die brennende menschliche Gestalt Osama bin Laden gewesen wäre? Wie hätte wohl
diese Ansammlung amerikanischer Staatsbürger im Jahre 2002 reagiert, wäre sie
plötzlich mit der öffentlichen Hinrichtung einer Person konfrontiert gewesen,
die sie für den größten Schurken auf der Welt hielt? Hätten diese für
gewöhnlich rechtschaffenen, sonntäglich am Gottesdienst teilnehmenden,
friedfertigen Menschen das erlaubt und dabei zugesehen? Hätte es Begeisterung
oder zumindest stille Zustimmung geben können, statt Ekel und Entsetzen
angesichts des Spektakels, einen Menschen unter Qualen sterben zu sehen?
Als ich
unter all diesen guten Leuten stand, wurde mir plötzlich klar, dass die
Reaktion vielleicht nicht gar so entsetzt hätte sein mögen, weil Osama bin
Laden in unseren Augen schlechterdings kein menschliches
Wesen ist. Er ist Osama, und als solcher ist er, um eine Formulierung von Ervin
Staub in The Roots of Evil ("Die Wurzeln des Bösen")
zu verwenden, vollständig "aus
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