Strafbataillon 999
unmöglich, er mußte sich getäuscht haben. Der junge Arzt kannte Dr. Kukill – wer kannte ihn nicht? –, und es schien ihm unvorstellbar, daß Dr. Kukill weinen könnte. Es war völlig absurd, und doch …
»Ich komme sofort!« hörte Dr. Wissek nach einer Weile Kukill sagen. Und dann, wie der Hörer am anderen Ende aufgelegt wurde. Einige Sekunden stand er noch ratlos da, schüttelte den Kopf, legte selbst auf und sagte zur Telefonistin: »Wenn mich nicht alles täuscht, hat es jetzt jemanden schwer erwischt!«
In einem abseits liegenden kleinen Zimmer lag Julia und rang mit dem Tode. Verzweifelt und hilflos standen die Ärzte um ihr Bett und sahen zu, wie Professor Dr. Burger, den Dr. Wissek aus dem Bett geholt hatte, die dritte Injektion mit dem von Dr. Deutschmann entwickelten Aktinstoff machte. Er injizierte das Serum in die Armvene, damit es schneller wirken sollte.
Julia lag im Koma. Ihre Haut war fahl, blaß, mit kaltem Schweiß überzogen, ihre Fingerkuppen waren weißlich, und die Nase stach erschreckend hart aus dem verfallenen Gesicht.
»Ich weiß nicht, ob es viel Sinn hat«, sagte Professor Dr. Burger, als er die Spritze leergedrückt hatte. »Bei einer solch irrsinnigen Infektion versagen alle konventionellen Mittel. Und an diesen Aktinstoff glaube ich nicht. Ich habe mir abgewöhnt, an Märchen zu glauben.«
Dr. Wissek nickte. Dann sagte er unvermittelt: »Dr. Kukill hat angerufen, daß er hierherkommen will.«
»Was will denn der hier?« Professor Burger sah überrascht auf. Seine hellen Augen im faltigen Gesicht unter dem schlohweißen Haar waren müde.
Dr. Wissek erwiderte: »Er war sehr aufgeregt …«
»Ach so, ach so. Nun – das kann ich mir ja denken … schließlich hat er ja … Sie kennen doch die Geschichte?«
»Es war eine Schweinerei«, sagte Dr. Wissek hart.
Professor Burger antwortete nicht. Er schob Julias Lider hoch und sah auf die Augäpfel. Sie waren starr, gläsern.
»Hat sie Cardiazol bekommen?«
»Ja.«
Der Professor stand auf. »Sie sind ja hier, bleiben Sie bei ihr. Wenn irgend etwas geschehen sollte, rufen Sie mich.«
Dr. Wissek nickte. Er konnte jetzt nichts sagen. In seinem Hals saß ein Kloß, er fürchtete sich, zu sprechen.
»Ich möchte nicht diesen – diesen Kukill sehen«, sagte Professor Burger und ging dann wortlos hinaus.
Dr. Wissek zog einen Stuhl zum Bett und setzte sich hin. Seine straffe, jugendliche Gestalt sank in sich zusammen. Er hatte den ganzen Tag gearbeitet. Mechanisch griff er nach Julias Arm und fühlte den Puls.
So fand ihn Dr. Kukill.
Es war ein anderer Dr. Kukill, dieser Mann, der ins Zimmer gestürmt kam, mit wirren Haaren, ohne Mantel, mit einem heruntergerutschten Schlips und schweißnassem Gesicht, als derjenige, den Dr. Wissek in Erinnerung hatte: von einigen Gesellschaften her, Empfängen, zuletzt vom Prozeß gegen Ernst. Er war um Jahre gealtert, und seine kühle und spöttische Selbstsicherheit schienen verpufft. Ohne sich um Wissek zu kümmern, kniete er vor Julias Bett nieder.
»Warum hat sie das bloß getan?« fragte er heiser, und Dr. Wissek hatte den Eindruck, daß er ihn nicht fragte, sondern sich selbst oder einfach fragte, wie schon so viele vor ihm, denen gesagt werden mußte, daß ein Mensch, den sie liebten, gestorben sei: Warum? Warum mußte das geschehen?
»Guten Abend, Kollege Kukill«, sagte Dr. Wissek leise. In seiner Stimme schwang bitterer Sarkasmus.
»Was?« Kukill sah verständnislos zu ihm auf und blickte dann wieder auf Julia. »Wieviel Aktinstoff haben Sie injiziert?«
»Zweimal 5 ccm.«
»Mein Gott – ist das nicht zuviel?«
»Was kann hier noch passieren?« sagte Dr. Wissek.
»Und sonst? Haben Sie sonst nichts unternommen? Sulfonamide?«
»Wir haben alles getan.«
Dr. Kukill prüfte Julias Puls, zog – genauso wie Professor Burger vor ihm – ihre Lider hoch, blieb noch eine Weile knien, stand dann langsam, sich auf das Bett stützend, auf. »Und Sie meinen?« fragte er dann, ohne den Blick von Julias Gesicht zu wenden. Er erwartete keine Antwort, denn er wußte selbst: Hier schien nichts mehr zu helfen. Dann drehte er sich um und ging langsam hinaus, als ob er sich zu jedem Schritt zwingen mußte.
Dr. Wissek sah hinter ihm her und fühlte jetzt keinen Zorn mehr gegen diesen Mann.
In Barssdowka war der Teufel los.
Nicht allein, daß Oberfeldwebel Krüll mit seinem Hinternschuß Mittelpunkt des Feldlazaretts wurde, mit Kronenberg erregte Diskussionen beim Verbandwechseln führte
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