Sturmsegel
Hinrichs finstere Miene erblickte, wurde ihr sogar noch flauer zumute.
»Ich werde mit Hinrich an die Mauer fahren und Rationen an die Soldaten verteilen. Es könnte spät werden, wartet also nicht mit dem Essen auf uns.«
Bislang war Roland Martens nur dann nicht zum Abendessen zugegen gewesen, wenn er sich auf Handelsreise begeben hatte. Gewiss würde er nicht nur die Soldaten beliefern, sondern sich auch die Truppen vor der Stadt anschauen.
Die Furcht, dass er von der Kugel eines feindlichen Musketiers getroffen werden könnte, schlich sich in ihr Herz.
Hinrich zog ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen, dann verließ er mit seinem Vater die Küche. Kurz darauf rumpelte der Kaufmannswagen vom Hof.
*
In dieser Nacht träumte Anneke von ihrer Mutter. Die Bilder waren dabei so klar, dass sie ihr wie die Wirklichkeit erschienen.
Anneke lief am Strand entlang, auf der Suche nach ihrer Mutter, die Treibholz sammelte. Die See toste neben ihr und der Himmel verdunkelte sich zusehends. Sie hatte sich zu weit von ihrer Mutter entfernt und fürchtete nun, sie nicht wiederzufinden. Die Brandung schwappte auf den Strand und ihre Füße. Immer wieder bekam sie Wassertropfen in die Augen, die ihre Sicht verschleierten.
Doch auch nachdem sie eine Weile gelaufen war, konnte sie ihre Mutter nirgends entdecken. Das Treibholz lag verstreut im Sand. Nicht einmal Fußspuren waren mehr zu finden. Die Brandung musste sie gelöscht haben.
Plötzlich hörte sie eine Stimme. Anneke blieb abrupt stehen und blickte sich um. Sie sah eine Möwe herabstürzen, die sich in dem Augenblick, als sie auf den Boden auftraf, in ihre Mutter verwandelte.
Sie sah so aus wie an dem Tag, als sie gestorben war. Der Wind zerrte an ihrem Hemd, das so wachsbleich war wie ihre Haut. Ihr nasses Haar ließ sie wie eine Ertrunkene wirken.
»Mutter, wo warst du?«, fragte Anneke, doch sie erhielt keine Antwort. Ihre Mutter sah sie nur bewegungslos an.
Anneke kam es vor, als würde ihr Herz in der Brust zu Eis erstarren.
»Mutter, komm, wir müssen nach Hause, ein Unwetter zieht auf«, rief sie ihr zu und streckte die Hand nach ihr aus.
Aber ihre Mutter bewegte sich auch jetzt noch nicht.
»Das Meer ist dein Leben«, sagte sie plötzlich, dann brandete eine hohe Welle auf und umschloss sie schäumend. Als sich das Wasser wieder zurückzog, war sie verschwunden. Anneke schrie auf und rannte näher an das Wasser, doch ihre Mutter war nicht zu sehen. Das Meer tobte noch immer und in der Ferne war ein weißes Segel zu erkennen …
»Anneke, wach auf!« Eine Stimme vertrieb das Traumbild.
Das Mädchen schnappte nach Luft und riss die Augen auf. Sie blickte geradewegs in das Gesicht des Vaters, der sich über sie gebeugt hatte.
»Was ist denn?«, fragte sie und bemerkte erst jetzt, dass er vollständig angezogen war. Dabei war es draußen noch immer tiefste Nacht.
»Die Kaiserlichen haben Aufstellung um die Stadt genommen. Sie wollen uns belagern.«
Augenblicklich fiel die Müdigkeit von ihr ab. Es war also so weit!
»Zieh dich an und nimm deine Sachen mit«, wies sie ihr Vater an. »Du und Hinrich, ihr müsst fort von hier!«
Anneke sprang aus dem Bett und warf sich ihr altes Kleid über. Die übrigen Gewänder packte sie zusammen mit ein paar anderen Dingen in ein großes Tuch, das sie zu einem Bündel verschnürte.
Der Kaufmann war inzwischen schon wieder zur Tür hinaus.
Als Anneke fertig war, folgte sie ihm nach unten.
Sanne war die Erste, die ihr begegnete. Sie trug noch immer ihr Nachthemd, ihr Haar floss offen über ihre Schultern. In ihrem Blick war Angst.
»Willst du nicht mitkommen?«, fragte Anneke, denn Dr. Steinwich hatte ja gesagt, dass alle Frauen des Hauses aus Stralsund fort sollten.
Sanne schüttelte den Kopf. »Dein Vater wollte mich fortschicken, aber ich kann nicht. Ich will meinen Liebsten nicht allein lassen. Sollte er verwundet werden, muss sich doch jemand um ihn kümmern.«
»Hast du deinem Schatz den Glücksbringer gegeben?«
Sanne nickte. »Ein Haarband. Wie du es von deiner Mutter hast. Ich hatte begonnen, es zu besticken, aber leider bin ich nicht fertig geworden. Ich habe Thomas gesagt, dass er es mir ja wiederbringen soll, damit ich meine Arbeit beenden kann.«
»Ich werde beten, dass er heil zu dir zurückkommt«, sagte Anneke. Daraufhin schloss sie die Kinderfrau in die Arme und drückte sie fest an sich. »Mach es gut, kleine Anneke, und komm heil wieder. Ich möchte, dass du auf meiner Hochzeit
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