Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
Marlow beendet sein Gequatsche ins Mikro und verkündet fünfzehn Minuten Pause. »Betet für den Putzlumpen, der euch als Seele dient«, fügt er hinzu. »Betet und bereut, das ist die allerwichtigste und allerwahrste Regel in Redemption.«
Das Quadrat löst sich auf. Die meisten Neuankömmlinge verbringen die Pause damit, sich zu fragen, auf welche Weise ihnen hier der Kopf abgerissen wird. Marlow lächelt. Diese Viertelstunde Freiheit direkt im Anschluss an die Begrüßungsrede, in der die Angst Zeit hat, Wurzeln zu schlagen, war eine Idee des Reverends. Und damit es auch wirklich funktioniert, geht Marlow davon, wobei sein dicker Hintern im roten Overall wabert.
37
Eine laue Brise weht über den brennnesselüberwucherten Winkel direkt neben den ehemaligen Baracken. Um dorthin zu gelangen, muss man über eine wackelige Absperrung klettern und sich auf einem kaum sichtbaren Trampelpfad durch eine Dornenhecke zwängen. Dort hinten stinkt es bestialisch nach den Latrinen. Gegenüber ragt der mittlere Zaun in die Höhe. Dahinter erstrecken sich die Felder bis zum Horizont. Abgesehen von den Wachhunden, die hinter dem Gitter patrouillieren, fällt kein indiskreter Blick hierher. Als Peter aus der Dornenhecke auftaucht, hält er sich unwillkürlich die Nase zu.
»Scheiße, Howie, das ist dein kleines Paradies?«
»Wer hat je von Paradies geredet? Das hier ist das ehemalige Scheißhaus von Redemption. Wir haben grad mal das Dickicht gelichtet, um in Ruhe hier sitzen zu können.«
Howard hält die Nase in die Ausdünstungen.
»Du wirst diesen Gestank noch lieben lernen, Mann. Das ist der Duft der Freiheit!«
Peter setzt sich auf eine der im Quadrat ausgelegten Planken. Er will etwas sagen, doch Howard bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Jenseits der Dornenhecke werden die ersten Takte von »Row Your Boat« gepfiffen, einem Kinderreim, der im Kanon gesungen wird. Howard pfeift zwei Anschlusstakte. Im Gebüsch knackt es, und zwei Jungen tauchen auf, gefolgt von Ezechiel dem Koloss, der sich zurückhält, als Howard und die beiden Neuankömmlinge einander zur Begrüßung umarmen.
»Peter, das ist Clyde Welby, den alle Marcellus nennen, weil er für sein Leben gern Marcellus geheißen hätte, und Collie Partridge, genannt die Vogelscheuche, weil er einfach aussieht wie eine verdammte Vogelscheuche.«
Peter drückt den beiden die Hand. Der erste ist ein kleiner Hänfling, der es offenbar aufgegeben hat, das Lockengestrüpp auf seinem Kopf je mit einem Kamm zu entwirren. Er hat große schwarze Augen, und über Wange und Kinn läuft eine lange gezackte Narbe.
»Dosenöffner«, kommentiert er, als er Peters Blick bemerkt.
Peter nickt voller Bewunderung. Collie indes ist ein langer Schwarzer, so mager, dass der Overall wie ein Sack um ihn schlottert.
»Es bleibt der letzte und wahrscheinlich erste von uns. Komm her, Dicker voller Leere. Sag meinem Freund Peter guten Tag.«
Ezechiel tritt misstrauisch näher. »Weiß er Bescheid?«, fragt er.
»Ja.«
Peter sieht die anderen an. Anscheinend ist es kein Spaß. Er hebt den Arm. Ezzie beugt sich zu ihm und beriecht seine Achsel. Seine Nüstern weiten sich, entspannen sich, werden noch einmal weit, und ehe sich Peter versieht, richtet Ezzie sich auf und umschlingt ihn mit seinen baumstarken Armen. Peter spürt ein Knacken im Rücken und fühlt sich mehrere Zentimeter emporgehoben.
»Du bist mein Kumpel!«, sagt der Riese begeistert.
Dann stellt er Peter wieder ab und entlässt ihn aus der Umklammerung, tritt einen Schritt zurück und verkündet den anderen freudestrahlend: »Das ist mein Kumpel!«
Die Jungen nicken ernst. Peter muss mehrmals tief durchatmen, um seine Muskeln zu entzerren, dann fragt er Howard: »Das war’s?«
»Yeah. Jetzt gehörst du zur Gruppe.«
»Aber irgendwas hat geknackt.«
Die anderen brechen in Gelächter aus.
»Sei froh! Frag mal die anderen, die Ezzies Geruchssinn missfallen haben! Wenn die noch reden könnten, würden sie dir sagen, dass es bei ihnen nicht geknackt hat. Was, Ezzie?«
»Ja, nicht geknackt.«
»Was hat er mit ihnen gemacht?«
»Er hat sie an sich gedrückt, aber viel fester.«
Peter reicht Ezzie die Hand.
»Nein, Peter, nicht die Hand!«
Peter zieht gerade noch rechtzeitig die Hand zurück, bevor sich Ezzies Pranke um seine Finger schließt.
»Warum nicht?«
»Darum. Ezzie gibt man nicht die Hand. Stimmt’s, Dicker?«
Ezzie lächelt. Verlegen sagt er: »Stimmt. Wenn ich wem die Hand geb, ist
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