Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
ausgesehen habe. »Hellwach und qietschfidel«, sagte sie. »Ich kann’s immer noch nicht glauben.« Einen Monat darauf spazierte er (ohne Stock) ums ganze Karree, und im folgenden Winter ging er jeden Tag im örtlichen YMCA zum Schwimmen. Er sah wie ein Fünfundsechzigjähriger aus. Das sagten alle.
Im Zuge seiner Wiedergenesung sprach ich mit allen Ärzten, die meinen Vater behandelt hatten. Was ihm widerfahren war, erinnerte mich an die sogenannten Mysterienspiele, die im Mittelalter in irgendwelchen gottverlassenen europäischen Städten abgehalten wurden. Ich sagte mir, ich müsste Dads Namen ändern (oder ihn vielleicht nur Mr. G. nennen), dann könnte ich einen interessanten Artikel für die eine oder andere Zeitschrift verfassen. Das hätte ich vielleicht – irgendwie – wirklich machen können, aber ich schrieb diesen Artikel nie.
Es war Stan Sloan, Docs Hausarzt, der als erster Alarm schlug. Er hatte Doc ans Krebsinstitut der University of Pittsburgh überwiesen und konnte somit Dr. Retif und Dr. Zamachowski, Docs dortige Onkologen, für die folgende Fehldiagnose die Schuld in die Schuhe schieben. Sie wiederum schoben die Schuld auf die Radiologen für deren schlampige Aufnahmen. Retif bezeichnete den Chef der Radiologie als inkompetenten Pfuscher, der eine Bauchspeicheldrüse nicht von einer Leber unterscheiden könne. Er bat mich, ihn nicht zu zitieren, aber nach fünfundzwanzig Jahren scheint mir diese Verpflichtung hinfällig geworden zu sein.
Dr. Zamachowski meinte, es sei ein einfacher Fall von organischer Fehlbildung. »Ich war mit der ursprünglichen Diagnose nie ganz zufrieden«, vertraute er mir an. Mit Retif sprach ich am Telefon, mit Zamachowski persönlich. Er trug einen weißen Laborkittel und darunter ein rotes T-Shirt, das zu besagen schien, dass er jetzt lieber beim Golfen wäre. »Ich hab immer eher auf von Hippel-Lindau getippt.«
»Wäre er daran auch gestorben?«, fragte ich.
Zamachowski bedachte mich mit dem rätselhaften Lächeln, das sich Ärzte für ahnungslose Klempner, Hausfrauen und Englischlehrer aufheben. Dann sagte er, er müsse sich beeilen, er habe noch einen Termin.
Als ich mich mit dem Chef der Radiologie unterhielt, breitete dieser nur die Arme aus. »Wir sind hier nur für die Aufnahmen verantwortlich, nicht für deren Interpretation«, sagte er. »Noch zehn Jahre, und wir haben Geräte, die solche Fehldiagnosen vollkommen ausschließen. Aber jetzt sollten Sie sich einfach freuen, dass IhrVater noch am Leben ist. Genießen Sie es.«
In der Hinsicht tat ich mein Bestes. Und durch meine kurzen Ermittlungen, die ich natürlich Recherchen nannte, lernte ich zumindest eines: Die medizinische Definition von Wunder nennt sich Fehldiagnose.
1983 war mein Sabbatjahr. Ich hatte mit einem Universitätsverlag einen Vertrag über ein Buch mit dem Titel Das Unlehrbare lehren: Strategien für Kreatives Schreiben , doch wie der Mysterienspiel-Artikel wurde es nie geschrieben. Im Juli, als Ruth und ich Pläne für eine Campingurlaub machten, verfärbte sich mein Urin plötzlich rosarot. Danach setzten Schmerzen ein, erst tief in der linken Hinterbacke, bevor sie, stärker werdend, in die Leistengegend wanderten. Als ich schließlich richtiges Blut pinkelte – vier Tage nach dem ersten Zwicken, glaube ich, und während ich noch immer das allseits bekannte Spiel »Vielleicht geht es von allein wieder weg« spielte – waren daraus ernsthaft quälende Schmerzen geworden.
»Ich bin überzeugt, dass es kein Krebs ist«, sagte Ruth, was, wenn es von ihr kam, so viel hieß wie, dass sie felsenfest davon überzeugt war. Ihr Blick war noch alarmierender. Noch auf dem Totenbett hätte sie das abgestritten – sie hatte sich immer viel auf ihre Nüchternheit zugute gehalten -, aber ich bin mir sicher, dass sie in diesem Augenblick glaubte, der Krebs, der meinen Vater verlassen hatte, sei auf mich übergesprungen.
Es war kein Krebs. Es waren Nierensteine. Mein Wunder nannte sich Extrakorporale Stoßwellenlithotripsie, unter der – unterstützt von diuretischen Pillen – sich die Steine auflösten. Ich sagte meinem Arzt, dass ich noch nie im Leben solche Schmerzen gehabt hätte.
»Und Sie werden solche wahrscheinlich auch nie mehr haben, selbst wenn Sie einen Herzinfarkt bekommen sollten«, sagte er. »Frauen mit Nierensteinen vergleichen sie mit den Schmerzen bei einer Geburt. Einer schwierigen Geburt.«
Ich hatte noch immer beträchtliche Schmerzen, war allerdings in der
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