Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
in Vietnam kostet 79,795 Millionen Dollar. 1964 beschließt der Kongreß in Washington ein bedeutendes Bürgerrechtsgesetz: es verbürgt den Negern gleiches Recht an den Wahlurnen. Die Praxis im Süden sieht so aus: um seine Stimme abgeben zu können, muß der Neger 30 Dollar zahlen; oder er muß eine Prüfung bestehen, und die seinen Bildungsgrad prüfen sind Weiße; drittens braucht er vielleicht einen Autobus, um an die Urne zu gelangen, und die über den öffentlichen Autobus-Verkehr entscheiden, sind Weiße. Aber es steht dem Neger natürlich frei, einen Tag lang zu Fuß zu gehen, wenn er wählen will. Wie steht es mit dem Bildungsgrad? 1966, zwölf Jahre nach einem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs in Washington, sind es von drei Millionen Negerkindern erst 10 Prozent, die eine integrierte Schule besuchen. 1965, anläßlich der Unterzeichnung der VOTING RIGHT BILL , sagt Präsident Johnson:
    »Heute zählt ein Triumph der Freiheit so viel wie alle Siege auf dem Schlachtfeld der Vergangenheit … Heute brechen wir die letzte große Fessel bedrohlicher und altertümlicher Versklavung.«
    Was auf diese feierliche Unterzeichnung folgt: im Lauf eines Jahres werden in den Südstaaten zahlreiche farbige und weißeAnhänger der Bürgerrechts-Bewegung ermordet; die Prozesse gegen die Mörder, sofern sie gefunden werden, enden meist nach kurzem Verfahren mit Freispruch.
     
    (Auch der Kriminalobermeister Kurras, der in Berlin den Studenten Ohnesorg niedergeschossen hat, ist freigesprochen worden.)
     
    Worauf soll der Neger hoffen?
     
     
    SAN BERNARDINO
     
    Siebenmal im Jahr fahren wir diese Strecke, und es tritt jedesmal ein: Daseinslust am Steuer. Das ist eine große Landschaft. Vor allem in den Kurven: der Körper erfaßt Landschaft durch Fahrt, Einstimmung wie beim Tanzen.

Notizen zu einem Handbuch für Anwärter
    Wenn einer in Gesellschaft es darauf anlegt, daß wir schätzen, wie alt er sei, und scheinbar vergnüglich auf unsere Schätzungen wartet – ich schätze: So Ende 30. Sein Lächeln zeigt leichte Enttäuschung; offenbar hat er auf einen krasseren Irrtum gehofft. Jemand liefert ihn höflich: 35. Der Mann treibt's wie bei einer Auktion: 35 zum letzten? Schließlich könnte man es ausrechnen, aber so groß ist unsere Neugierde nicht, und der Mehrheit würde es genügen: So Ende 30. Er trägt eine Hornbrille, das macht ihn vielleicht etwas älter; er nimmt die Hornbrille ab. Eine reifere Frau schmeichelt: 39. Jetzt wird's Zeit, sonst steigert noch jemand; jetzt muß er mit demGeständnis heraus: 40! Er sagt es mit Ausrufzeichen … Der Vor-Gezeichnete genießt es, wenn man ihn jünger schätzt, und sei's auch nur um ein Jahr, und er genießt es auch wieder nicht. Er ist nämlich trotzdem 40.
     
    Der Vor-Gezeichnete verrät sich dadurch, daß er öfter als bisher von diesem oder jenem Zeitgenossen sagt: Der ist ja senil! Umgang mit Greisen wird ihm lästiger als bisher; er kann sie nicht mehr komisch finden –
     
    Treibt er Sport (beispielsweise Ski), so ertappt sich der Vor-Gezeichnete dabei, daß er, wenn Junge zugegen sind, schneller fährt, als er eigentlich Lust hat –
     
    Es freut ihn nicht, Leute seines Jahrgangs begrüßen zu müssen, ehemalige Mitschüler mit Bauch und Glatze; er ist bei solchen Anlässen etwas verlegen, vor allem wenn ihn eine Freundin begleitet, eigentlich auch sonst.
     
    Sicheres Symptom: Alkoholismus –
     
    Intellektuelle machen die Erfahrung, daß ihre ersten Reaktionen auf eignes Altern primitiver sind als ihre sonstige Verhaltensweise: plötzlich gefällt sich ein Intellektueller darin, daß er auf öffentlichen Treppen leichthin zwei Tritte wie einen einzigen nimmt.
     
    Die jüngeren und jüngsten Zeitgenossen gelten zu lassen, wenn sie in seinem Fach auftreten, fällt dem Vor-Gezeichneten schwerer als dem Gezeichneten. Er ertappt sich dabei, daß er alles, was von Jüngeren kommt, als bloße Mode bezeichnet – wobei dieser Begriff für ihn genau dort beginnt, wo er trotz versuchter Anpassung nicht mehr Schritt hält.
     
    PS.
    Der Gezeichnete neigt wieder zum Gegenteil: er wittert in manchem, was nur Mode ist, sofort das Epoche-Machende und gefällt sich als Vorkämpfer.
     
    Früh-Senilität bei ehemaligen Wunderkindern.
     
    Neigung zur Hypochondrie: der Vor-Gezeichnete hofft noch allen Ernstes, daß dieses oder jenes Zeichen von Senilität, das ihn erschreckt, bloß ein Zeichen von Krankheit sei – heilbar oder unheilbar, jedenfalls bloß

Weitere Kostenlose Bücher