Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tagebuch 1966-1971 (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Frisch
Vom Netzwerk:
Farben, die das Leben noch lebenswert machen. Wahrscheinlich befinden sie sich auf einem trip …

Moskau, 17. 6.
    Bummel um den Roten Platz allein. Sommernacht. Viel Volk, das sich ergeht in einer Weltstadt; Landvolk. Hochhäuser jetzt wie im Westen. Mädchen in nicht allzu kurzen Röcken, aber kürzer als vor zwei Jahren; Männer tragen weiße Hemden ohne Jacke. Sonntag. Ich finde kein einziges Café im Freien. Man kann nur schlendern. Dann und wann ein Liebespaar auf einer öffentlichen Bank; sie halten einander schweigsam die Hand. Keine Licht-Reklame, aber die Straßen sind hell; es ist schade, daß ich Durst habe. Einmal ein Faß auf zwei Rädern mit einem Esel davor, Leute stehen Schlange, Ausschank von Quas. Die schicke Uniform junger Soldaten mit asiatischem Gesicht; sie sind hier auch nicht zu Hause.
     
    18. 6.
    L. ist aus der Partei ausgestoßen, weil er gegen die Schriftsteller-Prozesse protestiert hat, und seines Lehramtes enthoben,vom Sowjetischen Schriftstellerverband gerügt. Ebenso K. Wieder Verschärfung: als Reflex auf Prag? Wir speisen öffentlich in einem Restaurant, wo man die beiden Gerügten kennt, und sprechen deutsch.
     
    Hotel ROSSIJA :
    Blick auf den Kreml. HILTON -Komfort; nur daß die Spannteppiche sich wellen. Frühstück: ich setze mich an einen Tisch, ich bin keine Delegation, Kellner geben keine Auskunft, was einer machen soll, wenn er keine Delegation ist. Ich ärgere mich nicht. Schließlich bin ich nicht in Moskau, um zu frühstücken.
     
    Sofija:
    Ihr Deutsch ist tadellos, sie erledigt alles; ich sehe, was der Ausweis vom Schriftstellerverband vermag: wir müssen nicht Schlange stehen. Was Sofija auch nicht zustande bringt: daß die an den Schaltern hilfsbereit wären, nicht untertänig, nur vielleicht höflich oder wenigstens nicht grämlich. Sofija scheint es nicht anders gewöhnt zu sein. Sie fragt nicht, wen ich gestern in Moskau getroffen habe. Natürlich bin ich vollkommen frei. Wir trinken – als wir es schließlich bekommen – ein Bier; ich lobe das russische Bier. Was nicht zu besprechen ist: Paris, die Lage nach den Straßenschlachten und dem großen Streik. Sobald vom Ausland die Rede ist, fällt ein Vorhang. Also erkundige ich mich, wie es in der Sowjetunion mit dem Trinkgeld ist. Sofija bestätigt: Keine Trinkgelder, man lebt hier nicht von Almosen nach herrenhafter Laune. Eine Stunde später, als mein Freund mit dem Taxi-Fahrer einen Streit hat, erfahre ich: der Taxi-Fahrer war mit dem Trinkgeld nicht zufrieden. Abendessen in der Küche: Was genügt, um aus der Partei ausgestoßen zu werden? Diesmal ohne Kerker; insofern spricht er von Fortschritt. Wenig Bitterkeit. Geduld.
     
    Adresse der schweizerischen Botschaft in russischer Schrift, ich zeige den Zettel, aber der Taxi-Fahrer: Njet. Ich weiß nicht. Der zweite: Njet. Der dritte: Njet. Erst der Vierte bequemt sich, wie ein Dulder, in einem Straßenverzeichnis nachzusehen.
     
    Hotelhalle:
    Das könnte auch in Mailand sein, in Hamburg, in Genf, dieselbe Architektur, aber es sind nicht Herren, die aus dem Lift kommen, sondern Arbeiter. Es ist ihnen selbstverständlich, daß sie auf Marmor gehen. Der bürgerliche Prunk als Vorbild: Das können wir genauso! Kein eigener Stil in der Architektur –
     
    Einschiffung nach Gorki:
    Ein Schiff voller Schriftsteller, aber: ein Schiff ist immer etwas Schönes, und das ist meine erste Schiffahrt auf einem Strom. Heißer Sommerabend. Ich kenne niemand an Bord außer Günther Weisenborn. Ich begrüße Christa Wolf (DDR) und spüre Mißtrauen. Der Lautsprecher liefert Musik aus einem französischen Film. Möwen. Wir gleiten –

Wolga, 19./20. 6.
    Kabine zusammen mit einem finnischen Schriftsteller, der russisch spricht; keine gemeinsame Sprache. Er weckt mich und zeigt mit dem Finger nach oben, dann in den offenen Mund: Frühstück.
    Wolga –
    Schriftsteller aus aller Welt, aber kein bekannter Name außer Alberti. Leider gibt es keine Liste. Man fragt sich langsam herum. Niemand aus Frankreich. Ein Gorki-Übersetzer ausItalien; kein Moravia, kein Pasolini, kein Sanguinetti. Ein altes Faktotum aus den USA, ein anderes aus Norwegen. Keine Jungen. Niemand aus England; ein Dichter aus Island, der schweigt. Kein Schriftsteller aus der Tschechoslowakei; eine frohe Gorki-Übersetzerin und ein alter Herr aus Prag, Kritiker, glaube ich. Inder in ihrer schönen Tracht; ihre Würde, der Ernst ihrer dunklen Augen. Ein Schriftsteller aus Australien, der sich anschließt, da ich

Weitere Kostenlose Bücher