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Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ka Hancock
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sehr, wie ich noch nie etwas zu wollen gewagt hatte. Aber ich hatte eine Todesangst davor, dass sie mich durchschauen,
mich
sehen könnte – mich! Und alles zurücknehmen. Ich fuhr wieder fort und war schon fast zu Hause, ehe mir klarwurde, dass ich die größte Chance wegwarf, die das Leben mir schenken konnte. In meinem Kopf redeten viele Stimmen, aber eine erhob sich schließlich über das Durcheinander und sagte mir, dass ich ein Idiot war, wenn ich ihr nicht erlaubte, mich zu lieben. Doch als ich wieder dort ankam und sie auf dem Rand des Daches sitzen sah, konnte ich erst einmal nichts tun, außer sie zu beobachten. Ich wollte schon gehen, da stand sie auf und kam auf mich zu. Die Angst in ihrem Gesicht spiegelte meine eigene. Es lagen auch strahlende Hoffnung und Vertrauen, ganz unverdient, in ihrem Blick. Wie hat sie das gemacht? Wie schaffte sie es, meine Seele in genau der Sprache anzusprechen, die sie verstehen konnte?
    Heute Nacht, während meine Frau im Sterben liegt, staune ich darüber, wie kurz ich davorstand, es seinzulassen. Wie entsetzlich arm mein Leben wäre, wenn ich an jenem Abend nicht auf das Dach gestiegen wäre! Obwohl ich sie gerade verliere, schaudert es mich noch mehr bei der Vorstellung, dass ich sie beinahe gar nicht erst bekommen hätte.
     
    Koma. Keinerlei Reaktionen. Präfinal.
Diese Worte trieben durch die Luft, während über mir deutliche und tränenreiche Diskussionen geführt wurden. Ich bemühte mich, zu sprechen, mich zu bewegen, zu begreifen. Mickey streichelte meine Finger, und ich konnte sein Grauen riechen. Ach, wenn ich doch nur seine Hand drücken, ihn auf die Wange küssen könnte, dann würde ich dafür sorgen, dass es ihm besserging! Ich kämpfte darum, aufzuwachen. Mit aller Kraft versuchte ich, ganz wach zu werden und auf Mickeys wiederholtes Flehen zu antworten: »Lucy, Liebling, mach die Augen auf. Wach auf. Bitte wach auf.«
    Ich hörte meinen eigenen Atem, schwer und nass rasselnd, aber seltsamerweise spürte ich nicht die Anstrengung, die mich jeder Atemzug kosten musste. Noch einmal versuchte ich zu sprechen, die Worte aus meiner Kehle zu zwingen. Das Baby. Warum sprach niemand von meinem Baby? Plötzlich war ich von Grauen erfüllt und nahm ein weiteres Mal meine ganze gelähmte Kraft zusammen, um aufzuwachen. Aber ich vermochte die Augen nicht zu öffnen.
    Im selben Moment, als mir klarwurde, dass diese Stimmen über mich sprachen, wurde ich
ihrer
Anwesenheit gewahr. Die Erscheinung war hier, aber sie stand ein wenig abseits, so dass ich sie nicht deutlich sehen konnte. Doch ich spürte sie. Ich spürte ihren Blick.
    »Mein Baby?«, fragte ich stumm.
    Sie antwortete nicht, und die Trauer meiner Familie sank noch schwerer auf mich herab.
    »Du kannst uns nicht beide mitnehmen. Das würde sie umbringen«, sagte ich. »Ist es schon Zeit?«, fragte ich dann und versuchte, meine Gedanken lauter zu machen.
    »Bald«, antwortete sie.
    Ich verschloss meinen Geist vor ihr, denn es ärgerte mich, dass sie mich in eine so hilflose Lage brachte. Stattdessen schob ich meine Wahrnehmung nach außen, außerhalb meines Körpers. Ich konzentrierte mich auf die Hand, die meine hielt. Ich war ja da. Ich musste nur die Barriere durchbrechen, die mich von allen anderen trennte.
    »Lu?«, krächzte Mickey heiser. »Schätzchen? Bitte mach die Augen auf.«
    Ich hörte, wie Peter Gladstone hereinkam und sich an alle Anwesenden wandte.
    Alle außer mir. Er erklärte meiner Familie, dass ich vor zwei Wochen ein Formular ausgefüllt und unterschrieben hatte – meine Patientenverfügung. Es untersagte den Ärzten die künstliche Beatmung, sofern sie nicht erforderlich sei, um mein ungeborenes Kind zu retten. Dr. Gladstone hatte mir erklärt, wie die letzte Phase meiner Krankheit aussehen würde. Man könne mich mit Hilfe von Apparaten am Leben erhalten, doch das würde den tödlichen Ausgang meiner Erkrankung nicht verhindern. Er machte mir unmissverständlich klar: Wenn es so weit kam, dass ich künstlich beatmet werden musste, würde dadurch nur das Leid der Menschen verlängert, die mir nahestanden. Genau diese Szene hatte ich mir vorgestellt. Alle, die ich liebte, um mich versammelt, untröstlich. Ich hatte das Formular ohne Zögern unterschrieben und rasch die Vorstellung verdrängt, wie sich Mickey an ein
Ich
klammerte, das nie wieder aufwachen würde.
    Diese Neuigkeit wurde meiner Familie jetzt nicht unfreundlich, aber keineswegs mitfühlend genug beigebracht.

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