Teufelsmond
war ihr, als könnte sie die alte Grit hören.
Nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint
, erklang Grits Stimme.
Wenn du nicht zwischen gut und böse unterscheiden kannst, so höre auf dein Herz. Das Herz, Kind, ist manches Mal klüger als der Kopf.
«Danke, Grit», flüsterte Karla. Dann schritt sie rascher aus, und ihre Schritte wurden länger, die Schultern straffer. Schneller, als sie gedacht hatte, war sie bei der Hütte angelangt. Daneben, bei einem Holzstapel, stand der schwarze Jo und sah ihr entgegen, als hätte er auf sie gewartet. Die letzten Schritte kam er ihr entgegen, streckte beide Hände nach ihr aus. «Karla. Wie schön.» In seinem Gesicht lag ein Strahlen, dann wurde es ernst. «Ist etwas passiert? Gibt es einen Grund, warum du hier bist?»
Karla hätte sich am liebsten in Jos Arme geworfen, den Kopf an seiner Brust, um alle Angst in sich loszuwerden. Doch der schwarze Jo legte ihr nur einen Arm um die Schulter und führte sie zum Holzplatz.
In wenigen Worten schilderte Karla, was in den letzten Tagen geschehen war. Sogar von der Nacht des Exorzismus berichtete sie. Jos Gesicht verkrampfte sich, als er hörte, dass man Vater, Bruder und Tante mit den Gesichtern nach unten im Sarg festgenagelt hatte, doch er sagte kein Wort.
«Und jetzt liegt der Beckmann im Sarg, und ein Kind im Dorf ist krank», schloss Karla ihren Bericht.
Der schwarze Jo nahm ihr Gesicht in beide Hände. «Du zitterst ja», sagte er. Karla schwieg. Endlich verstand der Mann. «Auch du hast Angst, nicht wahr?»
Karla nickte.
«Dann danke ich dir umso mehr dafür, dass du hier rausgekommen bist.» Und jetzt zog er sie in seine Arme, presste ihren Kopf sanft gegen seine Brust, sodass sie sein Herz schlagen hörte. Ruhig und gleichmäßig hämmerte es in seiner Brust. Zuverlässig und beständig. Nichts tröstete Karla mehr als dieser regelmäßige Herzschlag.
Lange verharrten sie so. Von Karla fiel die Angst ab wie ein welkes Blatt vom Baum. Sie wünschte, dieser Augenblick möge niemals vorübergehen, doch nach einiger Zeit hörte der schwarze Jo auf, ihren Rücken zu streicheln, und begann zu sprechen. «Ich bin nicht böse, bin auch von keinem Dämon besessen. Genauso wenig wie die anderen in meiner Familie.» Er stockte und seufzte schwer. «Zumindest glaube ich das. Aber manchmal kommen mir Zweifel. Wenn ich allein bin, dann ist alles gut. Wenn meine Familie unter sich ist, dann ist alles gut. Aber wenn ich mit anderen Menschen zusammen bin, dann flackert Angst in ihren Augen, und ich frage mich, ob sie etwas sehen, für das ich blind bin. Verstehst du?» Er wartete Karlas Antwort nicht ab, sondern sprach weiter. «Hier draußen in der Natur, da sind die Tiere mir nahe. Die Vögel fressen mir aus der Hand, Eichhörnchen kommen ganz dicht an mich heran. Nicht einmal die Rehe fliehen vor mir. Es ist, als ob ich zu ihnen gehöre. Sie fürchten mich nicht.» Er seufzte, ehe er weitersprach, und Karla wusste, dass es ihm schwerfiel, so mit ihr zu sprechen. «Im Wald und in der Mühle fühle ich mich sicher. Alle Dinge sind das, was sie sind. Verstehst du?»
Karla nickte. «Ich weiß, was du meinst. Manchmal bekommen die Dinge eine andere Bedeutung, wenn sie von anderen Augen gesehen werden.»
«Ja, so ist es.» Der schwarze Jo klang überrascht, so als wäre er noch nie einem Menschen begegnet, dem es ebenso ging. «Wenn die Dinge das sind, was sie scheinen, dann fühle ich mich sicher, dann kann ich so sein, wie ich bin. Aber dann komme ich hinüber ins Dorf. Und aus einer Krähe wird ein Totenvogel, aus einer schwarzen Katze ein Unglücksbote, und aus mir wird das Böse. Dann bekomme ich Angst. Nicht nur vor den anderen, sondern auch vor mir selbst. Steckt wirklich das Böse in mir und wird nur sichtbar in Gegenwart anderer Menschen? Wieso sehe ich das nicht? Bin ich blind für mich? Gar nicht der, der ich glaube zu sein? Unablässig denke ich darüber nach. Seit Jahren habe ich Angst, hinüber ins Dorf zu gehen. Keine Angst vor den Menschen dort, sondern vor ihren Blicken, in denen etwas steht, das ich nicht begreife. Ich habe Angst, sie könnten mich entlarven, könnten etwas entdecken, das ich vor mir selbst verheimliche.»
Er drückte Karla an sich. «Ich will niemandem weh tun, verstehst du? Und am allerwenigsten dir.»
Eine Weile schwiegen sie, wärmten sich am Körper des anderen.
Ich fühle mich so sicher und geborgen bei ihm, dachte Karla. Es kann nicht sein, dass er das Böse ist. Beim Bösen kann
Weitere Kostenlose Bücher