The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
sie versucht haben, einen Exorzismus vorzunehmen. Seine Traumlandschaft ist dabei zusammengebrochen. Danach konnte er kaum noch sprechen.«
Mir fehlten die Worte. Ich hatte schon davon gehört, dass Traumlandschaften zusammenbrechen konnten – Zeke, einem der Jungs in der Gang, war genau das passiert. So wurde man unlesbar. Die Schutzmechanismen, die geistige Angriffe verhinderten, wuchsen Schicht für Schicht wieder nach, und mit ihnen auch die Traumlandschaft.
»Die Rotjacken haben ihn vor zwei Jahren aufgegriffen. Er lebte in Southwark auf der Straße – ein Unlesbarer ohne Geld oder Essen. Als möglichen Widernatürlichen haben sie ihn in den Tower gesteckt, aber ich habe ihn für immer hierhergeholt. Obwohl er als Amaurotiker behandelt wird, verfügt er noch über eine Aura. Ich habe ihm das Sprechen wieder beigebracht. Und er wird hoffentlich irgendwann einen Weg zurück in den Æther finden, damit er wieder so singen kann wie früher. Mit den Stimmen der Toten.«
»Moment mal«, hakte ich nach. »Du hast ihn unterrichtet?«
»Ja.«
»Warum?«
Es wurde vollkommen still im Zimmer. Der Wächter griff nach seinem Kelch.
»Wer bist du?« Bei der Frage blickte er hoch. »Du bist der Blutsgefährte einer Sargas-Herrscherin. Seit 1859 manipuliert ihr unsere Regierung. Ihr habt den Menschenhandel mit der Ware ›Seher‹ unterstützt und zugesehen, wie sich dafür ein ganzes System entwickelt hat. Ihr habt ihnen dabei geholfen, Lügen, Hass und Angst zu verbreiten. Also, warum hilfst du den Menschen?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Ebenso wenig, wie du mir verraten wirst, wer deine Freunde sind, werde ich dich über die Hintergründe meines Handelns aufklären.«
»Würdest du es mir sagen, wenn du herausfindest, wer meine Freunde sind?«
»Eventuell.«
»Hast du es Michael verraten?«
»Zum Teil. Michael ist mir gegenüber außerordentlich loyal, aber aufgrund seines anfälligen geistigen Zustands kann ich ihm nicht hundertprozentig vertrauen.«
»Denkst du so auch über mich?«
»Von dir weiß ich zu wenig, um dir zu vertrauen, Paige. Doch das bedeutet nicht, dass du dir dieses Vertrauen nicht verdienen kannst.« Er lehnte sich zurück. »Genauer gesagt bietet sich heute noch eine Gelegenheit dazu.«
»Was soll das heißen?«
»Du wirst schon sehen.«
»Lass mich raten: Du hast einen Wahrsager getötet und seine Gabe gestohlen, und jetzt glaubst du, du könntest meine Zukunft sehen.«
»Ich bin kein Gaben-Dieb. Aber ich kenne Nashira sehr gut, so gut, dass ich ihre Schritte vorausahnen kann. Ich weiß, wann sie besonders gerne zuschlägt.«
Die Standuhr schlug einmal. Der Wächter sah zu ihr hinüber. »Nun, die Stunde ist um«, stellte er fest. »Du kannst gehen. Vielleicht solltest du deiner Freundin einen Besuch abstatten, der Kartenlegerin.«
»Liss ist in Bewusstseinsstarre verfallen.«
Fragend sah er mich an.
»Die Rotjacken haben ihre Karten ins Feuer geworfen.« Mir schnürte sich die Kehle zu. »Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.«
Bitte ihn um Hilfe. Innerlich rang ich mit mir. Frag ihn, ob er ihre Karten ersetzen kann. Das macht er bestimmt. Er hat auch Michael geholfen.
»Wie traurig«, sagte er. »Sie ist eine wirklich talentierte Akrobatin.«
Mühsam presste ich hervor: »Würdest du ihr helfen?«
»Ich habe keine Karten. Sie muss ihre Verbindung zum Æther herstellen.« Er sah mir direkt in die Augen. »Außerdem bräuchte man Amarant.«
Reglos sah ich zu, wie er nach einer kleinen Schachtel griff, die auf dem Beistelltisch stand. Sie sah aus wie eine alte Schnupftabakdose, mit Perlmutt- und Goldintarsien verziert. Auf dem Deckel war eine Blüte mit acht Blättern zu sehen, wie diejenige auf der Box mit den Phiolen. Er klappte sie auf und entnahm ihr ein winziges Fläschchen, in dem ein bläulich schimmerndes Öl schwappte.
»Das ist Asternextrakt«, stellte ich fest.
»Sehr gut.«
»Warum hast du so etwas?«
»Ich setze bei Michaels Behandlung geringe Mengen Blütenstern ein. Es hilft ihm dabei, sich an seine Traumlandschaft zu erinnern.«
»Blütenstern?«
»So nennen wir Rephaim die Aster. Es ist eine wörtliche Übersetzung aus unserer Sprache. Sie nennt sich Glossolalia, kurz Gloss.«
»Ist das auch die Sprache der Gaukler?«
»Ja. Die uralte Sprache des Æthers. Michael spricht sie nicht mehr, versteht sie aber noch. Genau wie die Flüsterer.«
Dann konnten Gaukler die Rephaim also belauschen. Interessant. »Und du hast vor, ihm Asternextrakt zu geben
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