The Forest - Wald der tausend Augen
jeder Kerze
auf dem Tisch aus und tauche den Tunnel in Dunkelheit, bevor ich mich hinausschleiche. Die gut geölten Bolzen rutschen leicht wieder in die Scharniere und nichts weist darauf hin, dass ich je hier gewesen bin.
Als ich aus dem Keller geflüchtet bin, zieht draußen vor den Fenstern ein rosa Hauch über den Horizont. Ich schleiche mich in mein Zimmer und ziehe mein Kleid an. Dann mache ich Feuer und verbrenne mein Nachthemd in den auflodernden Flammen. Ab morgen werde ich es ohnehin nicht mehr brauchen.
Am Schreibtisch vor dem offenen Fenster lasse ich mich von der kühlen Frühlingsluft umwehen, die den Geruch nach Moder und altem Wein von meiner Haut vertreibt. Ich starre über den Friedhof hinweg zu den Zäunen, lasse den Blick verschwimmen, bis der Wald nur noch ein Fleck frischen Grüns ist, die Ungeweihten dunkle Sprenkel und der Zaun nicht mehr vorhanden.
Nichts im Leben ist mir noch klar. Nichts ergibt einen Sinn, und ich weiß nicht, wie ich das Richtige tun kann.
Heute Nacht ist meine Bindung mit Harry. Heute ist die letzte Gelegenheit für Travis, mich zu fordern. Die Feierlichkeiten werden diesen Nachmittag wieder aufgenommen. Doch im Augenblick gehört meine Zeit noch mir, deshalb schleiche ich mich aus dem Münster und laufe dann am Rand des erwachenden Dorfes entlang, bis ich auf dem Hügel bin.
Statt auf den Wald zu schauen, ans Ende meiner Welt, blicke ich heute aufs Dorf hinunter. Auf die Hütten und
Häuser, die da unten auf der Erde kauern vom Fuße des Hügels bis hin zum Münster auf der anderen Seite des Dorfes. Das Münster ist ein gewaltiger Bau mit seinen Flügeln, die sich wie Arme ausstrecken. Hinter dem Münster bietet sich die wohlbekannte Aussicht auf den Friedhof und die kleine Böschung, die zum Bach hinunter abfällt. Dort haben Harry und ich uns an den Händen gehalten, an dem Tag, an dem meine Mutter sich angesteckt hat. Und wie Punkte sind überall die Plattformen in den Bäumen auszumachen, die mit Vorräten versehen für uns vorbereitet worden sind, falls es je einen Durchbruch geben sollte.
Alles ist von Zäunen umschlossen, hohen Maschendrahtzäunen, die für unsere immerwährende Sicherheit da sind.Wie schwach diese Zäune doch sind, denke ich, wie gern sie im Sommer von Ranken überwuchert werden und welch endlose Arbeit für die Wächter, die ständig auf Patrouille sind, ständig reparieren und flicken.
Es erstaunt mich, dass uns etwas so Anfälliges wie diese verknüpften Metallschnüre in dieser Welt gefangen hält. Dass es die Ungeweihten draußen hält, aber auch unsere Träume. Die Sonne gleitet über den Himmel, einen Moment lang blitzt sie auf den Zäunen, die den Pfad hinter dem Tor am Münster schützen.
Ich verbringe den Morgen damit zu überlegen, wie Travis und ich gemeinsam die Welt in Ordnung bringen können. Und immerzu laufe ich auf dem Hügel auf und ab und warte darauf, dass Travis kommt und Anspruch auf
mich erhebt. Die Zeit schwappt über mich hinweg wie Wasser über einen Felsen.
Als es Zeit für mich wird, mich für die Bindungszeremonie an diesem Abend fertig zu machen, sitze ich auf dem Bett in dem kleinen Haus nicht weit vom Münster, das Harry und mir gehören wird, sobald unser Bund morgen vollzogen ist. Meine Hände liegen schlaff in meinem Schoß, als ich begreife, dass Travis mich doch nicht holen wird.
Es klopft an der Tür, und mein Herz fängt an, wie wild zu hämmern. Ich stehe auf und hoffe, es ist Travis. Das ist jetzt die letzte Gelegenheit für uns. Wenn das Ritual erst einmal begonnen hat, werde ich mich entweder Harry hingeben oder die Zeremonie abblasen müssen.
Letzteres würde bedeuten, dass ich mich der Gnade der Schwestern ausliefere. Ich müsste sie bitten, mir zu erlauben, wieder in ihre Reihen eintreten zu dürfen, und sei es auch nur als ihre Dienstbotin. In unserem Dorf bekommt eine Frau keine zweite Gelegenheit zu heiraten.
Ich streiche den weißen Stoff glatt, der über meine Beine fällt. Meine Hände zittern, als ich nach dem Türknauf greife. Der Magen schnürt sich mir zu, und meinen ganzen Körper erfasst eine Welle von Angst, Hoffnung und Freude.
Das Licht draußen vor der Tür ist der grelle letzte Aufschrei
des Tages, und für einen Moment denke ich, dass Travis gekommen ist und mein Leben endlich in die richtigen Bahnen gefunden hat. Dass mir endlich deutlich wird, wo ich hingehöre in dieser Welt.
Und dann rascheln Röcke und Schwester Tabitha tritt durch die Tür und stolziert mitten
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