The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
bahne ich mir den Weg aus der Tür.
Alles ist unsäglich: der Schmerz, das Echo der Gespräche in meinem Kopf, das Foto, das wir gestern Abend noch unbedingt zusammen machen mussten. Es zeigt mich mit den Besoffenen, wir stehen in einem Studio, hinter uns rauscht ein ausgeblichener Wasserfall aus einer Leinwand.
Doch die Morgenluft tut mir gut. Ich durchbreche die Zweitausend-Kilometer-Marke auf einer geraden Landstraße, stelle meine Kamera auf und tanze. Ein Bauer schaut interessiert zu. Als ich fertig bin, frage ich: »Und, gut?«, und er antwortet: »Gut!«
Ich verlasse Ningxia und betrete wieder Gansu. Es passiert beinahe unbemerkt, ohne Beschilderung. Nur China Mobile vergisst mich nicht, ich bekomme eine automatische SMS: WILLKOMMEN IN GANSU .
Es wird jeden Tag wärmer.
Die Stadt Jingning liegt in einem Tal unterhalb einer Bergstraße. Als ich sie von oben das erste Mal sehe, ist es spät am Abend, und sie sieht aus wie ein leuchtendes Piratennest. Ich schreibe Juli, dass ich sie vermisse. Ich würde gerne öfter mit ihr telefonieren.
Ich bleibe zwei Tage in Jingning, dann verlasse ich die Stadt. Alles ist grün. An einem Kiosk kaufe ich mir ein Stieleis mit Schokoladengeschmack. Ich erinnere mich an mein Pfirsichblütental zwischen Binxian und Pingliang und frage mich, wie es jetzt wohl aussehen mag.
Während mir das Eis die Finger hinunterläuft, denke ich, dass eigentlich alles zu Urlaub wird, solange man dabei Eis isst. Mir gefällt das: Die Sonne scheint, der Frühling hat sich geschmückt, und ich mache einen kleinen Ausflug.
Und auf einmal sind überall Rennradfahrer. Sie tragen bunte Kostüme und Helme und rasen einer nach dem anderen vorbei. Dabei sehen sie furchtbar streberhaft aus. Sie überholen einen überladenen Heuwagen, und ich denke, dass sie in Deutschland wahrscheinlich weniger auffallen würden als hier. Ich winke, wir sind schließlich alle zum Spaß hier. Doch nur einer hebt kurz die Hand, und keiner hält an.
»Streber«, murmele ich. Meine Finger sind ein bisschen klebrig von dem Eis, und meine Füße tragen mich durch den Frühling.
In einem kleinen Tempel treffe ich auf Herrn Zhang. Er kommt jeden Tag hierher, um die Räucherstäbchen zu erneuern. Sie liegen vor dem halb verhüllten Bildnis einer Gottheit, die ich nicht einordnen kann.
»Buddhistisch oder daoistisch?«, frage ich, doch er runzelt nur die Stirn.
Dies sei ein Erdgott, sagt er, eine Gottheit, die nur für dieses eine Dorf zuständig sei. Er legt die Räucherstäbchen zu einem raffinierten Muster zusammen, sodass eines sich immer am Ende des vorherigen entzündet. Auf diese Art hat der Erdgott vierundzwanzig Stunden lang Rauch, bis Herr Zhang wiederkommt und seine Arbeit erneuert.
Als er fertig ist, lädt er mich zu sich zum Tee ein. Wir verlassen den Tempel und stapfen nebeneinander die ockerfarbenen Hügel hinauf. Dabei hält er die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und ich muss an die Geschichte vom Großen Schnurbaum von Hongtong denken.
Ich bin überrascht, dass er nicht in einer Höhlenwohnung wohnt. Als ich ihn danach frage, grinst er und sagt, seine Frau habe etwas Moderneres haben wollen.
Seine Frau ist der Chef im Haus. Ihr Reich ist gefliest und beeindruckend sauber, sie zeigt auf den Kang : Ich soll mich hinsetzen. Erfreut bemerke ich, dass er noch leicht warm ist, dann bekomme ich ein Kissen zu fassen und sinke nach hinten.
Als ich aufwache, werde ich von Kindern angelacht.
Es gibt bunt eingepackte Bonbons und Tee, ich bleibe noch eine Weile, und zum Abschied zeigt mir Herr Zhang den Weg hinauf zu der Ruine. Sie liegt hoch auf einem Berg, ein Kasten aus gestampftem Lehm mit Türmen an den Ecken. Sie sieht aus wie eine uralte Burg oder ein Teil der Großen Mauer.
»Ist das ein Teil der Großen Mauer?«, frage ich, doch Herr Zhang schüttelt nur den Kopf. Wir verabschieden uns, er kommt nicht mit hinauf.
Ich steige an, laufe um den riesigen Kasten herum, finde eine Öffnung und krieche hinein. Da sind nur Leere und trockenes Gras, wie auf einem lange nicht benutzten Fußballplatz. Eine Weile stehe ich herum, dann krieche ich wieder hinaus. Ich habe schon mehrere dieser Ruinen in den Bergen hier gesehen, und noch immer habe ich keine Ahnung, was es mit ihnen auf sich hat.
Abends, als ich in einer kleinen Siedlung zu Abend esse, werde ich von ein paar Dorfbewohnern aufgeklärt: Die Ruinen haben mit der Großen Mauer nichts zu tun. Sie stammen aus dem zwanzigsten Jahrhundert, aus der Zeit
Weitere Kostenlose Bücher