Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
schmale Lesebrille aus der Tasche ihres Kittels und setzte sie auf die Nase. Als sie über den Zettelrand zu ihm hinüberblinzelte, lächelte Jung sie freundlich an. Er zog ihr mit einer ruhigen, fast zärtlichen Geste die Einkaufsliste wieder aus den Fingern. Sie sah ihm konzentriert in die Augen. In ihrem Blick lagen Trotz und eine stumme, verzweifelte Ergebenheit in das, was jetzt kommen musste.
»Ich lese uns die Liste laut vor, Senhora Maria. Vielleicht habe ich etwas Wichtiges vergessen und Ihnen fällt noch etwas ein, das wir unbedingt brauchen, okay?«
»Sim, Senhor Tomi. Ich höre.« Ihre Stimme war mehr ein erstaunter Seufzer.
Als er ans Ende gekommen war, sah er sie aufmunternd und lächelnd an. Sie schien zu überlegen, was auf der Liste noch fehlen könnte.
»Entao, é perfecto, Senhor Tomi.«
Er ließ es dabei bewenden. Er wollte nicht von sich aus zu verstehen geben, was er wusste. Sie tranken ihren Kaffee.
»Ich arbeiten. Mais Café, Senhor Tomi?«
»Nein, danke. Wenn Sie etwas brauchen, dann bin ich auf der Terrasse.«
»Muito obrigado, Senhor Tomi.«
*
Die Stunden flossen dahin. Jung lag in seinem Stuhl unter dem Sonnenschirm und starrte auf den Ozean. Gedanken flitzten ihm durch den Kopf. Er hatte Mühe abzuschalten. Es war ruhig auf der Terrasse. Ab und zu hörte er im Hintergrund, wie Maria im Haus wirtschaftete. Auf die Dauer breitete sich der Frieden des Ortes auch in ihm aus. Nur die Schätze in Tinys Keller und seine merkwürdige Reaktion auf seine Anspielung gingen ihm nicht aus dem Sinn. Er erwog, der Sache auf den Grund zu gehen, heute noch. Vielleicht sollte er Franzen anrufen und ihn bitten, die Spur der exquisiten Köstlichkeiten aufzunehmen. Mit dem Hinweis auf die Versteigerung von Bordeaux-Weinen bei Sotheby’s sollte das nicht weiter schwer sein. Wenn Maria das Haus verlassen hatte, konnte er das in Angriff nehmen. Über seinen Gedanken kam er zur Ruhe. Als er die Augen schloss, wehte ihm der Duft der nahen Zitrusbäume in die Nase. Er lauschte und vernahm das ferne, fast unmerkliche Grollen eines Airliners hoch über ihm. Er fühlte sich wohl, schlief aber entgegen seiner Gewohnheit nicht ein. Der Gedanke an die außergewöhnliche Rarität in Tinys Keller wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen.
Er sah auf die Uhr. Es war eine gute Zeit, ein Glas davon zu genießen. Er ging ins Haus und traf Maria in der Küche.
»A casa ja esta pronto«, empfing sie ihn. »Alles fertig. Precisa mais uma coisa [2] , Senhor Tomi?«
»Obrigada, Senhora Maria. Trinken Sie ein Glas Wein mit mir?«
»Oh, sim. Um vinho nunca faz mal [3] . Danke sehr, Senhor Tomi.«
Jung holte die angebrochene Flasche aus dem Hauswirtschaftsraum, wo er den Wein zur Aufbewahrung in den Weinschrank gelegt hatte. Als er zurück in die Küche kam, hatte Maria passende Weingläser auf den Tisch gestellt. Jung registrierte die Gläser mit Wohlwollen. Maria verschwendete keinen Blick auf das Etikett. Es schien sie nicht zu interessieren. Er schenkte ein und setzte sich zu ihr an den Tisch.
»Was sagt man auf Portugiesisch, wenn man miteinander anstößt, Maria?«
»A nossa saúde, Senhor Tomi. A nossa, auch gut.«
»A nossa saúde, Senhora Maria.«
»A nossa, Senhor Tomi.«
Jung sah sie zum ersten Mal lächeln. Es stand ihr gut, fand er, und gab ihrer herben Schönheit eine äußerst sympathische Note. Während sie tranken, sah ihm Maria lauernd in die Augen. Jung glaubte sich von ihr beobachtet und fragte sich, was sie bei ihm suchte. Ihr Blick flackerte für einen kurzen Moment, als sie den Wein hinunterschluckte.
»Was ist, Maria? Schmeckt er nicht?«, fragte Jung neugierig, nachdem sie die Gläser abgesetzt hatten.
»Sim, sim, Senhor Tomi. Gosta excelente, extremamente bom. Sehr gut, Senhor Tomi.«
Jung freute sich über ihr Urteil und trank noch einen Schluck hinterher. Maria drehte ihr Weinglas zwischen den Fingern und starrte in die rote Flüssigkeit. Schließlich holte sie ein paar gefaltete Papiere aus ihrer Kitteltasche und legte sie zwischen ihnen auf den Tisch.
»Senhor Tomi, faca favor. Há uma problema. Ich nicht kann lesen.«
Sie starrte ihn an. Jung reagierte nicht, weil er es schon wusste. Ihr Blick wurde ungläubig, dann entspannte sie sich.
»Ich habe um papel da casa de Senhor Tiny. Ich finden no chao do quarto debaixo da cama [4] .« Sie machte eine Pause und sah ihm fragend in die Augen.
Er glaubte, sie verstanden zu haben, und erwiderte: »Kein Problem, Senhora. Ich
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